Gerüchte über Kreml-Plan Wie echt war Owssjannikowas Protest?
17.03.2022, 13:41 Uhr
Lässt sich den Mund nicht verbieten: Marina Owssjannikowa.
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
Während die einen die mutige Aktion von Marina Owssjannikowa im russischen TV feiern, unterstellen ihr andere, es habe sich dabei um ein Ablenkungsmanöver des Kreml gehandelt. Doch kann an diesem Vorwurf überhaupt etwas dran sein?
Schon kurz nach dem aufsehenerregenden Auftritt von Marina Owssjannikowa im russischen Staatsfernsehen am Montagabend meldeten vor allem Twitter-User Zweifel an der Echtheit ihrer Aktion an. Wie plausibel aber sind deren Behauptungen, es habe sich bei ihrem Protest gegen den Angriff auf die Ukraine und die russische Berichterstattung lediglich um ein Ablenkungsmanöver des Kreml gehandelt?
Besonders häufig verbreiteten User das Gerücht, die angeblichen Live-Übertragungen vom Kreml-nahen Sender "Kanal Eins" würden vorab aufgezeichnet oder zeitversetzt gezeigt, um derartige Aktionen zu verhindern. Schließlich wird Zensur in Russland nicht erst dieser Tage großgeschrieben. Allerdings gehört es zur Natur von Nachrichtensendungen, live ausgestrahlt zu werden. Ob das auf die Nachrichtensendung zutrifft, konnte ntv.de nicht überprüfen.
Doch auch die nicht vorhandene Reaktion der Nachrichtensprecherin Jekaterina Andrejewa auf das Geschehen im Hintergrund wird als Indiz dafür herangeführt, dass es sich bei der Aktion um eine gesteuerte Maßnahme handelte und sie eingeweiht war. Erklärt werden kann das allerdings auch schlicht damit, dass sich Andrejewa ganz professionell auf ihre Arbeit konzentrierte. In diesem Job wird man darauf geschult, sich von nichts ablenken zu lassen.
Auch der Text auf dem Plakat rief kritische Stimmen auf den Plan. Dort war unter anderem "NO WAR" zu lesen - in englischer Sprache. Eine Botschaft an den Westen also und nicht an das russische Volk? Allerdings ziert der Schriftzug weltweit und damit derzeit auch in Russland Plakate von Protestlern und ist ein gebräuchlicher, weil international funktionierender Slogan gegen den Krieg und für den Frieden. Außerdem war der Rest der Botschaft auf Russisch: "Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen."
Aktion "kein Hexenwerk"
Nachdem Marina Owssjannikowa ins Studio gestürmt war, hinderte niemand sie daran, es wieder zu verlassen, zitiert die Kreml-kritische Seite Meduza eine nicht näher benannte Quelle aus dem Sender. Dass die Mitarbeiterin erst beim Verlassen des Gebäudes von Wachleuten festgehalten wurde, wird als weiterer Hinweis gedeutet.
Meduza sprach darüber mit dem Journalisten Igor Riskin, der von 2002 bis 2009 bei "Kanal Eins" angestellt war. Russlands Krieg mit Georgien im Jahr 2008 und die damalige Berichterstattung des Senders desillusionierten ihn, der selbst als Korrespondent in Washington eingesetzt war, zutiefst. "Und ich war auch dafür verantwortlich, obwohl ich nicht direkt beteiligt war", sagt er laut Meduza.
Riskin widerspricht jenen, die glauben, Sicherheitskräfte hätten einen solchen Vorfall niemals zugelassen. Diese Leute seien "noch nie im Studio des Fernsehzentrums Ostankino gewesen. Es ist ein ehemaliges Konzertstudio", erklärt er und fügt an, dass die Redakteure im selben Raum arbeiten, in dem aufgezeichnet wird. "Hinter dem Eingang des Gebäudes stehen keine Sicherheitskräfte", so Riskin weiter.
"Die Redakteure arbeiten wochenlang in Schichten, und die Wachen lernen die Gesichter der Menschen kennen. Jeder kennt jeden, und ein vierfach zusammengefaltetes Plakat hereinzubringen, es dann aufzufalten und sich hinter den Nachrichtensprecher zu stellen, ist kein Hexenwerk. Ich nehme an, dass einfach niemand im Studio war, um sie festzuhalten." Und er glaubt, der Kontrollraum hätte dann die Sicherheitskräfte informiert, die Owssjannikowa am Ausgang festhielten.
Support von Putin-Gegnerin Xenia Sobtschak
Schon 40 Minuten nach dem Protest-Aufritt tauchte ein vorab aufgezeichnetes Video auf, in dem Owssjannikowa ihre Beweggründe erklärt: "Mein Vater ist Ukrainer, meine Mutter ist Russin - und sie waren nie Feinde (...) Diese Kette an meinem Hals ist wie ein Symbol dafür, dass Russland den Bruderkrieg sofort stoppen muss." Dass sich dieser Clip so schnell verbreitete, deutet zumindest darauf hin, dass sie Unterstützer hatte. Xenia Sobtschak, Tochter von Putins politischem Ziehvater Anatoli Sobtschak und Patenkind des Präsidenten, war eine der ersten, die es veröffentlichte. Sie selbst gilt als Kritikerin Putins, trat 2018 bei den Wahlen gegen ihn an und ist seit geraumer Zeit untergetaucht.
Auf Sobtschaks Telegram-Kanal "Caution, the news" sollen zudem Aufnahmen des Geschehens im Studio aus verschiedenen Blickwinkeln hochgeladen worden sein, darunter der Moment hinter den Kulissen, in dem Owssjannikowa mit dem Plakat ins Studio lief. Demnach könnten ihr durchaus auch TV-Kollegen bei der Aktion geholfen haben.
Keine Beweise, nur Spekulationen
Marina Owssjannikowa wurde verhaftet, in einem Eilverfahren zur Zahlung von 30.000 Rubel (circa 226 Euro) verurteilt und wieder freigelassen. Zweifler glauben, der Kreml wolle so zeigen, dass in Russland jeder seine Meinung sagen kann, ohne allzu große Repressalien fürchten zu müssen. Allerdings steht Owssjannikowa wohl eine weitere Anklage ins Haus, denn die Geldstrafe bezieht sich lediglich auf das Social-Media-Video, nicht auf die Aktion im TV. Laut der russischen Nachrichtenagentur TASS hat das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation bereits damit begonnen, die Angelegenheit zu überprüfen. Nach dem von Putin erst Anfang März eingeführten neuen Mediengesetz drohen der Journalistin wegen der Diffamierung der russischen Armee und der Verbreitung von "Falschmeldungen" dann bis zu 15 Jahre Haft.
Beweise, dass Marina Owssjannikowas Protest ein PR-Stunt der russischen Regierung war, gibt es also nicht. Bei allen Argumenten für einen Fake handelt es sich um reine Spekulation, deutlich mehr spricht dagegen. Zudem ist unklar, welchen Zweck das Ganze erfüllen sollte. Die Aufhebung von Sanktionen, weil diese eben auch Russen treffen, die gegen den Krieg sind? Es ist doch eher unwahrscheinlich, dass eine Einzelaktion wie diese solch weitreichende Folgen hat, was auch dem Kreml klar sein dürfte.
Kurz nach der Aktion wurde dann noch ein offensichtlich gefälschtes Instagram-Profil von Marina Owssjannikowa verbreitet, das sie als Unterstützerin des Kriegs in der Ukraine zeigt. Auf ihrem echten und mittlerweile nicht mehr auffindbaren Profil waren hingegen Urlaubsbilder aus aller Welt sowie Einblicke in ihr Familienleben zu sehen. Dass jemand versucht, Owssjannikowas Aktion zu schmälern und sie zu diskreditieren, ist also weitaus denkbarer.
Quelle: ntv.de, nan