Politbeben in Thüringen Wie konnte Kemmerich gewählt werden?
05.02.2020, 19:52 Uhr
Thomas Kemmerich ist neuer Ministerpräsident Thüringens.
(Foto: REUTERS)
Sicher war die Wahl Ramelows nicht, aber doch wahrscheinlich. Dass es am Ende ganz anders kam, liegt an den schwierigen Mehrheitsverhältnissen im Thüringer Landtag. Und an taktischen Spielchen der Parteien.
Früh am Morgen, lange bevor die historische Landtagssitzung in Erfurt angefangen hatte, gab die SPD der FDP einen Korb. Es ging um ein Angebot des liberalen Fraktionschefs Thomas Kemmerich, der vorschlug, dass die Sozialdemokraten ihre Ministerposten behalten könnten, sollte die FDP den Ministerpräsidenten stellen.
Für die SPD antwortete früh um 7 Uhr Landeschef Wolfgang Tiefensee. Und das ziemlich deutlich: "Ist es wahr, dass Sie sich mit den Stimmen der AfD zum MP (Ministerpräsidenten) wählen lassen und dann die SPD-Minister zum Bleiben auffordern wollen?", fragte er Kemmerich auf Twitter und schloss an: "Welch ein politischer Dammbruch und welch eine Anmaßung." Die Thüringer SPD werde "weder im Parlament noch in der Regierung einen MP von Gnaden der AfD unterstützen".
Es war der Beginn eines politischen Tages, der nicht nur Thüringen, sondern die gesamte Bundesrepublik noch eine ganze Weile beschäftigen wird. Denn keine sieben Stunden später war tatsächlich ein FDP-Politiker Ministerpräsident, gewählt auch mit den Stimmen der AfD. Der bisherige Regierungschef Bodo Ramelow von der Linkspartei, der noch am Morgen per Twitter seine Hand an CDU und FDP ausgestreckt hatte, "um Neues zu wagen", war aus dem Spiel.
Seine Wahl stand aber von vornherein unter keinem guten Stern. Die Mehrheitsverhältnisse im Landtag sind seit der Wahl im Oktober vergangenen Jahres kompliziert. Die bisher regierende rot-rot-grüne Koalition verlor ihre Mehrheit - was an SPD und Grünen lag, nicht an Ramelows Linkspartei, die sogar stärkste Kraft im Land wurde. Da sich die CDU einer Zusammenarbeit mit der Linken, aber auch der erstarkten AfD verweigerte, gab es keine Konstellation, die eine Mehrheit im Landtag hinter sich gehabt hätte.
Gegenkandidat auf der Tribüne
Also versuchte Ramelow, seine R2G-Koalition als Minderheitsregierung weiterzuführen, mit 42 der insgesamt 90 Abgeordneten in Erfurt. Am Dienstag wurde dazu ein gemeinsamer Regierungsvertrag verabschiedet. Fehlte noch die Wahl des Ministerpräsidenten, die am Mittwoch ab 11 Uhr über die Bühne gehen sollte. Dass dieser Weg unsicher sein würde, war klar. Ebenso, dass es auf einen dritten Wahlgang hinauslief.
In den ersten beiden Abstimmungen fiel Ramelow dann wie erwartet durch. Im ersten Wahlgang erhielt er 43 Stimmen - also immerhin auch eine aus der Opposition. 22 Abgeordnete enthielten sich. 25 Stimmen entfielen auf den Kandidaten der AfD, den parteilosen Christoph Kindervater, der sich der Partei am vergangenen Wochenende selbst angedient hatte und nun auf der Tribüne saß. Er wurde damit - vermutlich - von der gesamten 22-köpfigen AfD-Fraktion gewählt sowie von drei Abgeordneten von CDU oder FDP.
Ein zweiter Wahlgang wurde nötig - erneut brauchte es zur erfolgreichen Wahl die absolute Mehrheit der Abgeordneten, also 46 Stimmen. Ramelow verfehlte diese erneut, auch wenn er bei 44 landete, also leicht zulegen konnte. Dagegen verlor AfD-Kandidat Kindervater, er erhielt 22 Stimmen - was der Zahl der AfD-Abgeordneten entspricht. 24 Abgeordnete enthielten sich diesmal.
Eine dritte - und letzte - Abstimmung stand also an, bei der laut Landesverfassung die "Mehrheit der Stimmen" reichen sollte, egal wie viele es gewesen wären. Es war die Chance für Ramelow, von den rot-rot-grünen Abgeordneten an die Regierungsspitze gewählt zu werden - unter der Bedingung, dass die Opposition aus CDU, FDP und AfD nicht geschlossen für einen anderen Kandidaten stimmen würde.
Große Überraschung kurz vor halb zwei
All die im Vorfeld geführten Diskussionen, ob diese Wahl verfassungsgemäß sei, weil Ramelow im Parlament ja keine positive Mehrheit hinter sich hat, wurden obsolet, weil neben dem bisherigen Ministerpräsidenten zwei weitere Kandidaten antraten - neben Kindervater auch noch FDP-Fraktionschef Kemmerich. Schon am Montag hatten die Liberalen dieses Vorgehen beschlossen. Selbst die CDU hatte da noch nicht ausgeschlossen, einen eigenen Kandidaten im dritten Wahlgang aufzustellen. Man wolle sich aber mit der FDP abstimmen, hieß es da - und im dritten Wahlgang einen Kandidaten der Mitte unterstützen. Letztlich entschied sich die Truppe um Fraktionschef und Landesparteichef Mike Mohring am Wahltag dagegen, jemanden aus den eigenen Reihen ins Rennen zu schicken.
So standen also drei Namen auf den Wahlzetteln der Abgeordneten, als sie einzeln in die Wahlkabinen traten, um ihre Stimmen abzugeben. Die große Überraschung folgte dann kurz vor halb zwei: Da verlas die Präsidentin des Thüringer Landtags, Birgit Keller von der Linken, das Ergebnis: Es gab 90 abgegebene Stimmen, davon eine Enthaltung. Auf Ramelow entfielen - wie schon im zweiten Wahlgang - 44 Stimmen. Kindervater erhielt keine einzige Stimme. Und Kemmerich 45. Damit war er gewählt.
Was war passiert? Das lässt sich trotz der geheimen Abstimmung ganz gut nachvollziehen: Ramelow erhielt die Stimmen von Rot-Rot-Grün sowie zwei aus der Opposition, von CDU oder FDP. Die AfD ließ ihren eigenen Kandidaten fallen wie eine heiße Kartoffel und stimmte wohl geschlossen für Kemmerich - genau wie vermutlich die fünf Leute der FDP. Aus der 21-köpfigen CDU-Fraktion gaben fast alle Abgeordneten ebenfalls dem liberalen Politiker ihre Stimme. "Wir haben als CDU-Fraktion uns heute so verhalten, wie wir das angekündigt haben", sagte CDU-Fraktionschef Mohring im Anschluss ntv. Für die Kandidaturen und das Stimmverhalten anderer Parteien sei die CDU nicht verantwortlich.
Eine "widerlichen Scharade", sagt Ramelow
Das galt freilich nicht nur für die CDU. Auch die AfD hatte angekündigt, dass sie einen bürgerlichen Ministerpräsidenten von CDU oder FDP wählen und dann auf einen eigenen Kandidaten verzichten würde. Auch deshalb hatten FDP und CDU wohl in den beiden ersten Wahlgängen auf eigene Kandidaten verzichtet - um nicht von der AfD gewählt zu werden. Hatten die beiden Parteien also einfach darauf vertraut, dass die Fraktion um Rechtsaußen Björn Höcke auch im dritten Wahlgang Kindervater wählen würde? Dann wären sie auf eine Finte hereingefallen. Und hätten sich in ihren taktischen Spielchen verheddert.
Die Wahl Kemmerichs kam aber nicht nur äußerst überraschend - das war in den Gesichtern und an den Gesten vor allem vieler Abgeordneter der Linkspartei abzulesen. Sie ist auch äußerst ungewöhnlich, weil es die FDP mit gerade mal 5,0 Prozent als kleinste Partei hauchdünn ins Parlament geschafft hatte und sie dort - wie die Grünen - mit nur fünf Abgeordneten vertreten ist. Die kleinste Partei stellt den Regierungschef - das ist in Deutschland eine absolute Ausnahme.
Ramelow sprach am Abend von einer "widerlichen Scharade" und einem "deutschen Tabubruch". Der "Flügel" um Höcke sei "umfassend gestärkt" worden, sagte er "Eßlinger Zeitung", "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten". "Genau 90 Jahre nachdem es in Thüringen schon mal passiert ist: Sich von Herrn Höcke und dem Flügel wählen zu lassen - das war offenbar gut vorbereitet", fügte er an, mit Blick auf die erste Regierungsbeteiligung der NSDAP. Das war 1930, in Thüringen.
Quelle: ntv.de