Politik

Eskalationsrisiko in der Ukraine Wie würde der Westen auf einen Chemiewaffen-Einsatz reagieren?

Auf Beobachtungsposten: Ukrainischer Soldat bei der Stadt Lityn.

Auf Beobachtungsposten: Ukrainischer Soldat bei der Stadt Lityn.

(Foto: dpa)

Seit Tagen warnen die USA davor, dass die russischen Streitkräfte Chemiewaffen in der Ukraine einsetzen könnten. Präsident Biden droht mit Vergeltung. Die Folgen könnten fatal sein.

"No boots on the ground", dies ist das Mantra der US-Regierung, kein einziger Soldat soll die Ukraine betreten. Auch soll es keine Flugverbotszone geben. Um sie durchzusetzen, müssten die USA und Verbündete womöglich russische Flugzeuge abschießen, was nach Ansicht der Vereinigten Staaten wiederum den Dritten Weltkrieg auslösen könnte. "Das ist nicht in unserem nationalen Interesse", betonte die Sprecherin des Weißen Hauses am Montag ein weiteres Mal. Entsprechend vorsichtig gehen die USA weiter vor. Auch die Lieferung von Kampfjets wollte das Pentagon nicht riskieren. Wohl aber fließt Militärhilfe der USA in die Ukraine.

Dort verläuft die russische Invasion auch ohne Flugverbotszone und ukrainische Kampfjets drei Wochen nach ihrem Beginn nicht so, wie sich dies Kremlchef Wladimir Putin vorgestellt hat. Die russischen Bodentruppen um Kiew rücken kaum vor, die ukrainischen Verteidiger erweisen sich als widerstandsfähig, statt eines Marionettenregimes ist weiterhin der gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj an der Macht. Der ukrainische Staatschef zeigt sich zudem geschickt im Umgang mit Medien und anderen Staatschefs, um Unterstützung zu erhalten.

Die Geheimdienste der USA, Großbritanniens und anderer Länder warnen davor, dass Russland Chemiewaffen einsetzen könnte, wenn auch gewissenhaft vorbereitet und nur in engem Rahmen. Die Vermutung des Weißen Hauses: Moskau würde danach den Kriegsgegner oder die westlichen Länder der Verwendung beschuldigen und dies im eigenen Land für Propaganda ausnutzen. Sollte Russland tatsächlich die international verbotenen und geächteten Waffen einsetzen, werde es einen "hohen Preis" dafür bezahlen, warnte US-Präsident Joe Biden vergangene Woche.

"Maximale Verluste"

Dienstagnacht und Mittwoch unternahmen ukrainische Truppen erstmals Gegenoffensiven. Die Russen hätten "maximale Verluste" erlitten, sagte ein hochrangiger ukrainischer Militärangehöriger der "New York Times". Dies sei auch die Absicht der Einsätze gewesen, nicht etwa Landgewinne. Bleiben beide Seiten bei ihrer Kriegsführung, könnte sich der Konflikt noch länger hinziehen und der Kreml seine Verhandlungsposition verschlechtern. Will Moskau seine Ziele erreichen - in den Verhandlungen fordert der Kreml von Kiew unter anderem, die östlichen Separatistengebiete und die Krim als verloren anzuerkennen - könnte es zusätzliche Mittel einsetzen.

Die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, äußerte sich deutlicher und ausführlicher als Biden. Psaki sprach von einem "großen Bio- und Chemiewaffenprogramm" Russlands: Sie hätten "die Kapazitäten und die Fähigkeiten", damit in der Ukraine anzugreifen. In dieser Woche sagte US-Außenminister Antony Blinken zudem, das Weiße Haus sei weiterhin "sehr besorgt" über einen möglichen Chemiewaffeneinsatz Russlands in der Ukraine. Schließlich habe dies Moskau schon im syrischen Bürgerkrieg zumindest geduldet.

Das klingt, als würden die US-Geheimdienste wissen - oder glauben zu wissen -, dass Russland in großem Umfang Chemiewaffen besitzt. Diese sind international verboten, auch Moskau hat den Vertrag im Jahr 1997 unterzeichnet. Doch seither gab es mehrere Fälle von Vergiftungen gegen Kreml-Kritiker, für die Russland verantwortlich sein soll. Zuletzt verhängten die USA wegen der Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny im vergangenen Jahr Sanktionen gegen Russland. Gift ist sehr zielgerichtet. Der militärische Wert eines Einsatzes auf breiter Front ist hingegen höchst fraglich. Er könnte den Krieg so eskalieren, dass Russland sein erklärtes Ziel - die Ukraine mindestens zur Neutralität verpflichteten Pufferzone zur Wahrung seiner geopolitischen Interessen zu machen - deutlich verfehlt.

Die russische Armee hat andere Waffen zur Verfügung, mit denen hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung verursacht werden können, und setzt sie auch ein: Raketen, Artillerie, Bomben. Experten halten deshalb einen sehr begrenzten, zielgerichteten Einsatz von Chemiewaffen für die wahrscheinlichere Variante. Biden betonte zwar, er werde auch bei einem Chemiewaffeneinsatz keine Truppen in die Ukraine schicken. Doch schon ein Vergeltungsschlag aus der Ferne, von den USA oder NATO-Verbündeten, würde das Risiko einer Eskalation - und damit eines Weltkrieges - erhöhen.

Biden zufolge haben die USA bereits Hunderte Flugabwehrsysteme, Tausende Panzerabwehrwaffen, Radarsysteme, Drohnen, Kommunikationsausrüstung und mehr an die ukrainischen Streitkräfte geliefert, damit sie sich gegen Russland verteidigen können. "Es hat der Ukraine zweifellos geholfen, den russischen Truppen dramatische Verluste zuzufügen", rühmte der Präsident sich gestern. Noch am Samstag habe er weitere 200 Millionen Dollar bewilligt, um "den Nachschub an Waffen und Munition in die Ukraine konstant zu halten". Jetzt autorisiere er erneut 800 Millionen Dollar in Militärgerät, etwa 800 Flugabwehrsysteme. Dazu kämen 9000 Panzerfäuste und direkte Finanzhilfe an die ukrainische Regierung. Auch andere NATO-Staaten haben mit Waffenlieferungen bereits ihre Hände ins Feuer gelegt. Ein solcher Stellvertreterkrieg ist ein gefährlicher Balanceakt.

Tote Kinder

Ein Eskalationsrisiko, wenn auch wesentlich geringer, bestand auch viele Jahre lang im syrischen Bürgerkrieg, wo der Iran und Russland den autoritären Machthaber Baschar al-Assad stützten, die USA und ihre Verbündeten jedoch die Rebellen. Im Jahr 2013 waren 1400 Menschen in Damaskus durch syrisches Saringas gestorben, darunter viele Kinder. Russland und die USA handelten daraufhin aus, dass Syrien seine Chemiewaffen vernichten würde. Doch die Einsätze gingen weiter, im Jahr 2018 autorisierte der damalige US-Präsident Donald Trump einen einmaligen Vergeltungsschlag mit Raketen und Bomben gegen das Chemiewaffenarsenal Assads. Das US-Außenministerium hat seit Beginn des Bürgerkriegs mindestens 50 Chemiewaffeneinsätze des syrischen Regimes gegen die Bevölkerung gezählt.

Mehr zum Thema

Gestern forderte Selenskyj mehr Unterstützung von Washington, als er vor dem US-Kongress eine virtuelle Ansprache hielt. Er zeigte auch ein Video mit Kindern im Kriegsgebiet, Leichen und Vorher-Nachher-Bilder der Zerstörung. "Close the sky over Ukraine", forderte er die Kongressmitglieder auf, schließt den Himmel über der Ukraine. Falls dies zu viel verlangt sei, dann sollten die USA die Ukraine aber weiter unterstützen. Ein Video mit toten Kindern eines Chemiewaffeneinsatzes hatte Trump vor vier Jahren dazu bewogen, den Vergeltungsschlag in Syrien zu befehlen.

Im Ukraine-Krieg ist die Lage jedoch anders. Dort ist Russland nicht Garantiemacht, sondern unmittelbare Kriegspartei. Die USA haben nicht definiert, worin der "hohe Preis" bestehen würde, sollten russische Streitkräfte Chemiewaffen einsetzen. Russische Waffenarsenale oder Truppen könnten die USA nicht zur Vergeltung angreifen, denn damit würde auch ein Atomkrieg wahrscheinlicher. Putin hatte zu Beginn der Invasion deutlich mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Der ukrainische Präsident Selenskyj hielt dies zwar für einen Bluff. Aber darauf werden sich die NATO-Staaten vermutlich nicht verlassen.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen