Auf der Flucht verloren Jesidischer Vater bangt um seine Kinder
15.08.2014, 19:28 Uhr
Tausende Anhänger der religiösen Minderheit der Jesiden ergreifen die Flucht vor der IS.
(Foto: REUTERS)
Als die Kämpfer der IS das Dorf von Dschuni Chalaf einnehmen, entschließt sich der Familienvater mit seiner Frau und den neun Kindern zu fliehen. Sie müssen alles zurücklassen. Auf dem Weg in das angrenzende Gebirge erleiden sie zwei Schicksalsschläge.
Dschuno Chalaf hat es in die relative Sicherheit des Nordostens Syriens geschafft, doch der Gedanke an seine beiden auf der Flucht vor den Dschihadisten verlorenen Kinder lässt ihn nicht los. "Sie schossen auf uns, während wir fortrannten. Es herrschte völliges Chaos. Auf dem Weg verloren wir meine kleine Alifa und meinen Sohn Imad", erzählt Chalaf. Der Schmerz überwältigt den jesidischen Familienvater so sehr, dass er nach Luft ringt. "Ich weiß nicht, wo sie sind. Ich weiß nicht, ob wir sie jemals wiederfinden werden."
Wie tausende andere Angehörige der religiösen Minderheit der Jesiden ergriff Chalaf mit seiner Frau und den neun Kindern die Flucht, als die Kämpfer des Islamischen Staats (IS) vor zwei Wochen die Stadt Sindschar und die umliegenden Dörfer einnahmen. Hals über Kopf flohen sie ins nahegelegene Gebirge. Ohne Wasser oder Essen waren sie in den kargen Schluchten schutzlos der brennenden Sonne ausgeliefert. "Wir mussten die Sindschar-Berge hinauf rennen, mit nichts als den Kleidern, die wir trugen", sagt Chalaf. "Es waren viele Menschen, die mit uns rannten."
Nach einigen Tagen machten sich Chalaf und seine Familie auf den Weg entlang des Höhenzugs in Richtung Syrien. Kurdische Peschmerga-Kämpfer geleiteten sie schließlich aus den Bergen über die Grenze. Während ein Großteil der Flüchtlinge weiter nördlich in den Irak zurückkehrte, blieben die Chalafs im Flüchtlingslager Newroz in der Provinz Hassaka. Das Lager wird von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) kontrolliert, eine Handvoll Hilfsorganisationen bemüht sich um die Versorgung der Flüchtlinge.
"Vor kaum zwei Wochen lebten wir in Frieden"
"Die YPG haben auf der syrischen Seite der Grenze eine Front gegen die IS-Milizen eröffnet", sagt Hadija Jussef, die die selbst erklärte Autonome Kurdische Regierung in der Provinz Hassaka leitet. Demnach verloren die Milizen acht Kämpfer, bevor sie einen Fluchtweg für die Jesiden öffnen konnten. "Alle Einwohner der umliegenden Dörfer helfen, alle in Sicherheit zu bringen, die den Abstieg aus den Bergen geschafft haben", versichert Jussef. Dank der Hilfe der Kurden konnten laut der US-Regierung inzwischen die meisten Jesiden das Gebirge verlassen.
Doch die Flüchtlinge im Newroz-Lager lässt die Erinnerung an ihre Vertreibung keine Ruhe. "Vor kaum zwei Wochen lebten wir in Frieden", sagt Dschuno Chalaf. Nicht nur verloren sie zwei ihrer Kinder, sondern seine Frau Chonaf musste auf der Flucht auch ihre blinde Mutter zurücklassen. "Sie hätte die Reise nicht geschafft", sagt Chonaf, während sie ihr schreiendes Baby auf dem Arm wiegt. Auch ihre vierjährige Tochter ist traumatisiert. "Ich habe Angst, ich weiß nicht, wo mein Bruder und meine Schwester sind. Ich will nach Hause", sagt die kleine Rania.
Mit einer raschen Rückkehr rechnet indes niemand. Die Dschihadisten haben sich in weiten Teilen des Iraks und Syriens festgesetzt. Sie betrachten die Jesiden, deren Glaube von der altpersischen Religion des Zoroastrismus beeinflusst ist, als "Teufelsanbeter". Auch Christen, Schiiten und moderate Sunniten, die ihre eigene engstirnige Auslegung des Islam nicht teilen, sind von Tod und Vertreibung bedroht. Für Chalaf wird seine Flucht immer ein Einschnitt bleiben: "Wir mögen hier in Sicherheit sein, doch meine Seele habe ich auf der Flucht verloren."
Quelle: ntv.de, jki/AFP