Politik

Jerzy Montag zur Sicherungsverwahrung "Der Vollzug muss sich ändern"

Der Grüne Jerzy Montag fordert, "die Regelungen der Sicherungsverwahrung jetzt so zu verändern, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keinen Grund mehr hat, uns zu rügen, anstatt darüber nachzudenken, wie wir dieses Urteil umgehen können". Das Problem sei, dass es kaum einen Unterschied zwischen dem Vollzug der Sicherungsverwahrung und dem Strafvollzug gebe.

n-tv.de: Die Justizministerin betont, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe "das deutsche System der Sicherungsverwahrung nicht infrage gestellt". Hat sie recht?

Jerzy Montag ist Anwalt und rechtspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag.

Jerzy Montag ist Anwalt und rechtspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag.

(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)

Jerzy Montag: Sie hat recht, es ist eine Entscheidung, die einige wenige Sonderfälle betrifft, nicht das System der Sicherungsverwahrung insgesamt. Es geht nur um die sogenannten Altfälle, also für diejenigen, die vor 1998 verurteilt worden sind - zu einem Zeitpunkt, als die Sicherungsverwahrung noch auf zehn Jahre begrenzt war. Das betrifft nach meiner Kenntnis maximal 70 Personen.

Sie fordern, die Bundesregierung solle darauf verzichten, die nächste Instanz anzurufen. Aber wäre es zu verantworten, bis zu 70 Schwerverbrecher zu entlassen?

Was passiert denn, wenn die Bundesregierung die Große Kammer anruft und das Urteil dann bestätigt wird? Ich finde, Bund und Länder sollten ihr Hirnschmalz darauf verwenden, die Regelungen der Sicherungsverwahrung jetzt so zu verändern, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keinen Grund mehr hat, uns zu rügen, anstatt darüber nachzudenken, wie wir dieses Urteil umgehen können.

Wie muss die Sicherungsverwahrung verändert werden?

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sagt, solange die Sicherungsverwahrung eine Strafe ist, gilt das Rückwirkungsverbot. Ob die Sicherungsverwahrung eine Strafe ist, hängt im Wesentlichen vom Vollzug ab. Solange die sicherungsverwahrten Menschen unter den gleichen Bedingungen in den gleichen Gefängnissen sitzen wie die Strafgefangenen, wirkt die Sicherungsverwahrung wie eine Strafe. Es gibt bis heute in Deutschland kein einziges Vollzugsgesetz für die Sicherungsverwahrung. Hier sind die Länder gefragt: Wir brauchen solche Gesetze, und darin muss festgehalten werden, dass Sicherungsverwahrte ein Leben führen können müssen wie draußen, außer dass sie in ihrer Freiheit beschränkt sind. Dann hätte die Sicherungsverwahrung nicht mehr so sehr den Charakter einer Strafe, sondern wäre tatsächlich eine präventive Maßnahme zur Verhütung zukünftiger Gefahren. Und dann würde sich die Frage des Rückwirkungsverbots ganz anders stellen.

Der Anwalt des klagenden Häftlings fordert die sofortige Freilassung seines Mandanten.

Das verstehe ich, das würde jeder Anwalt tun.

Davon abgesehen: Ist die Forderung realistisch?

Die Situation ist so: Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat keine unmittelbar bindende Wirkung, weder für den vorliegenden Fall, noch ändert sie die Gesetzeslage in Deutschland. Es gibt keinen unmittelbaren Zwang für die Behörden.

Es gibt keinen Zwang, auf das Urteil zu reagieren?

Das Urteil bedeutet letztlich nur, dass das Gericht feststellt, dass die Rechtslage in Deutschland mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nach Auffassung des Gerichts nicht übereinstimmt. Mehr nicht. Wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für grundgesetzwidrig erklärt, dann ist es weg. So eine Kraft hat die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht.

Heißt das, Deutschland könnte das Urteil einfach ignorieren?

Ganz so ist es nicht, denn dann würde sich die Frage stellen, ob wir weiter Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention sein wollen. Auf Dauer ist ein Aussitzen daher sicherlich nicht möglich. Aber es ist auch nicht so, dass es jetzt einen Automatismus gibt. Jetzt sind die politischen Kräfte im Bund und in den Ländern gefordert, sich darüber Gedanken zu machen, was wir mit dem Urteil machen. Ich plädiere dafür, die Vollzugsbedingungen für Sicherungsverwahrte an menschenrechtliche Anforderungen anzupassen. Denn, wie gesagt: Sicherungsverwahrung ist keine Strafe, sondern eine präventive Maßnahme.

Glauben Sie, dass der betroffene Häftling am Ende tatsächlich freigelassen wird?

Das weiß ich nicht, dazu kenne ich den konkreten Fall zu wenig. Ich würde mir wünschen, er könnte raus, aber natürlich nur, wenn er nicht mehr gefährlich ist.

Mit Jerzy Montag sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen