Desolate Zustände im Irak Al-Kaida bläst zum Rachefeldzug
09.07.2010, 12:11 UhrDie Al-Kaida-Terroristen im Irak nutzen die Gunst der Stunde: Sie formieren sich neu. Mit Erfolg: In der westlichen Anbar-Provinz ist die Situation mittlerweile besonders dramatisch.
Sie sind fast lautlos - wie der heiße Wind, der leise über die unbarmherzig trockene Wüsten der Anbar-Provinz weht. Im Schutze der Dunkelheit schleichen sie zum Haus eines Polizisten, eines Richter oder eines ehemaligen Bürgerwehr-Kämpfers. Leise platzieren sie ihre tödliche Last. Noch bevor der Muezzin zum Morgengebet ruft, explodiert der Sprengsatz. Wände bersten. Trümmer erschlagen Männer, Frauen und Kinder. Die Liste der Opfer des Rachefeldzuges der Al-Kaida-Terroristen wird in Iraks westlicher Provinz Anbar von Tag zu Tag länger.
Dabei war diese Gegend, die zwischen Bagdad und der jordanischen Grenze liegt, einst die Vorzeigeprovinz der US-Armee. Hier hatten die US-Kommandeure 2006 mit Hilfe der Stämme schlagkräftige Bürgerwehren aufgebaut, denen es binnen eines Jahres gelungen war, die meisten Al-Kaida-Terroristen aus Anbar zu vertreiben. Doch die Strategie, die eine Zeitlang sogar als Vorbild für Afghanistan gepriesen wurde, funktionierte nur, solange die Amerikaner die Zügel selbst fest in der Hand behielten und die Bürgerwehr-Kämpfer bezahlten. Seitdem die von Schiiten und Kurden dominierte Regierung vor einem Jahr die Verantwortung für die Sicherheit übernommen hat, häufen sich die Attentate und Anschläge in der von arabischen Sunniten bewohnten Anbar-Provinz wieder.
"Goldene Gelegenheit" für Al-Kaida
"Al-Kaida wartet in Anbar seit 2007 auf eine Gelegenheit, um sich an ihren Feinden zu rächen", sagt der Polizeikommandeur der Stadt Falludscha, Mahmud Fajad. Es sieht so aus, als sei diese Gelegenheit nun da. An diesem Morgen haben Terroristen in Falludscha die Häuser von drei Polizeioffizieren in die Luft gesprengt. Zwei Erwachsene und zwei Kinder starben. Ähnlich sah es vor wenigen Tagen in anderen Städten der Provinz aus: in Abu Ghoreib, in Ramadi, in Hit und Al-Chalidija.
Tarek al-Assal war bis vor vier Monaten Polizeichef der Anbar-Provinz. Nachdem sich ein Selbstmordattentäter am 18. Februar direkt neben der Provinzverwaltung in Ramadi in die Luft gesprengt hatte, wurde er entlassen. Heute gehört er zu den Top-Beamten im Innenministerium in Bagdad. Er macht die USA und die irakischen Politiker für die Rückkehr der Al-Kaida-Terroristen verantwortlich: "Für die Terroristen ist das jetzt eine goldene Gelegenheit. Die Amerikaner ziehen ab, und die Bürgerwehren sind geschwächt, weil die Regierung aufgehört hat, ihren Sold zu bezahlen."
Desolate Umstände beflügeln Terror
Zwar ist der im Sommer 2005 begonnene Abzug der US-Truppen noch nicht abgeschlossen. Doch die rund 90.000 verbliebenen Soldaten verlassen ihre Stützpunkte seit dem vergangenen Sommer kaum noch. Jede Woche werden weitere Kasernen und Außenposten an die irakischen Sicherheitskräfte übergeben. "Schon jetzt fehlen uns die technischen Überwachungsmethoden der US-Armee", erklärt Al-Assal.
In den Städten der Anbar-Provinz waren die Al-Kaida-Terrorzellen, die sich im Irak nach der US-Invasion von 2003 formiert hatten, anfangs wie Befreier behandelt worden. Die konservative sunnitische Bevölkerung der Provinz teilte mit den Terroristen, die aus Saudi-Arabien und anderen arabischen Staaten kamen, den Hass auf die amerikanischen Besatzer. Viele radikale Islamisten aus der Provinz schlossen sich den Terroristen an. Doch als klar wurde, dass sich die Anschläge von Al-Kaida nur selten gegen die US-Armee richten, sondern meist gegen irakische Zivilisten, verloren die Terroristen allmählich die Unterstützung der Sunniten aus Anbar. Die Stammesführer schlossen schließlich einen Pakt mit der US-Armee und gründeten die Bürgerwehren für den Kampf gegen den Terror.
Dass Al-Kaida in der Anbar-Provinz jetzt wieder Fuß gefasst hat, liegt nach Ansicht einiger Sicherheitsexperten auch an dem desolaten Bild, dass die Parteien in Bagdad derzeit abgeben. Schon im Wahlkampf wurde getrickst und gemordet. Nach der Wahl vom 7. März begann dann der Machtpoker zwischen den vier stärksten Parteien, denen es bis heute nicht gelungen ist, eine Regierung zu bilden. Das neue Parlament trat nur einmal für eine halbe Stunde zusammen. Für die Bekämpfung des Terrors bleibt den Politikern, die um Macht und Posten streiten, kaum noch Zeit. Einige irakische Beobachter befürchten deshalb: "Anbar ist erst der Anfang."
Quelle: ntv.de, Anne-Beatrice Clasmann, dpa