Dossier

Europa in der Krise Angst vor dem Superstaat

Noch werden Wetten angenommen. Für die Pessimisten liegen die Erfolgschancen für Angela Merkel, die Lösung der EU-Verfassungskrise beim Juni-Gipfel in Brüssel unter Dach und Fach zu kriegen, derzeit noch "unter 50 Prozent". Die Optimisten meinen dagegen, die Einigung auf Zeitplan und Kernpunkte eines neuen Grundlagenvertrags für die EU sei bereits zu 80 Prozent perfekt.

In diesen Tagen geben sich im Berliner Kanzleramt Regierungschefs der EU die Klinke in die Hand. In den kommenden vier Wochen will Merkel in "Chefgesprächen" den Spielraum für die neue vertragliche Grundlage der EU ausloten, die bis zur Europawahl 2009 verbindlich sein soll. Merkels Ziel: Der Brüssel-Gipfel am 21. Juni soll möglichst nur noch vier bis fünf strittige Punkte mit klaren Varianten als Mandat für eine Regierungskonferenz vereinbaren. Bis Dezember soll dann unter portugiesischer EU-Ratspräsidentschaft der Vertrag stehen.

Nach wochenlangen internen Sondierungsrunden der Vertrauensleute der Staats- und Regierungschefs ist inzwischen klar, dass die Verfassung, wie sie in Deutschland von Bundestag und Bundesrat mit Zwei-Drittel-Mehrheiten gebilligt wurde, tot ist. Nicht nur Frankreich und die Niederlande, wo der Vertrag 2005 bei Volksabstimmungen durchgefallen war, akzeptieren keine reine Neuauflage. Auch Polen, Tschechien und Großbritannien haben inzwischen "Rote Linien" gezogen, die Merkels Kompromissfähigkeit arg auf den Prüfstand stellen.

Auf Staatlichkeit verzichten

Die Kanzlerin redet inzwischen auffallend oft nur noch von einem "Vertrag für Europa". Auf Staatlichkeit deutende Begriffe und Symbole sollen möglichst vermieden werden. Flagge, Hymne, wahrscheinlich auch der Begriff "Außenminister" werden aus dem Text wohl verschwinden. Die "Angst vor dem Superstaat" soll berücksichtigt werden.

Schmerzhafter für die "Integrationisten" in der EU, die eine stärkere Vertiefung der Zusammenarbeit wollen, ist die Diskussion um die "Charta der Grundrechte". Sie war bislang integraler Bestandteil des Verfassungsentwurfs, könnte aber jetzt nur noch als Verweis in dem neuen Vertrag auftauchen. Großbritannien - das seit jeher gegen einen zusätzlichen Grundrechtsschutz ist - hofft auf eine Sonderklausel, um diesen Vertragsteil vorerst zu umgehen.

Für die allermeisten Länder ist die im Verfassungstext vorgesehene Stimmengewichtung bei Entscheidungen der EU nach der Zahl der Länder und Bevölkerungsanteil dagegen tabu. Sie war extrem mühsam ausgehandelt worden. Polen und neuerdings auch Tschechien verlangen Änderungen an dieser "doppelten Mehrheit" zu Lasten der großen Länder wie Deutschland. Niemand sonst will allerdings dieses Fass wieder aufmachen.

Außenminister kein Außenminister

Überhaupt wollen Merkel und die Verfassungsbefürworter so viel von den neuen Spielregeln in der EU retten wie möglich. Dazu gehört auch ein ständiger Präsident des Europäischen Rats, der nicht mehr alle sechs Monate wechselt wie bisher. Ein EU-Außenminister soll zwar nicht mehr Außenminister heißen, aber inhaltlich entsprechende Vollmachten bekommen.

Änderungen am Vertragstext bei den Zuständigkeiten für Klimaschutz und Energiesicherung sind bereits angekündigt. Zusätzliche Blockade-Möglichkeiten für die nationalen Parlamente gegen Brüsseler Vorgaben ("Rote Karte") gelten dagegen als ausgeschlossen. Ob es klare Festlegungen für EU-Erweiterungen gibt, ist noch strittig.

Welche Form letztlich der neue Vertrag haben wird, gilt inzwischen als zweitrangig. Die wahrscheinlichste Lösung: Ein Grundvertrag mit den wesentlichen neuen EU-Spielregeln und daneben zusätzliche Vereinbarungen zu den bestehenden Verträgen. Die Sicherung der Handlungsfähigkeit ist inzwischen oberstes Ziel, auf das sich alle verständigt haben. Konsens ist auch, dass die Hängepartie mit der EU-Verfassung bald ein Ende haben muss. Sie lähmt die Union seit mehr als zwei Jahren.

Quelle: ntv.de

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