Millionen von Hunger bedroht Fatale Folgen der Krise
28.03.2009, 17:22 UhrDie weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise schlägt immer mehr auf die Entwicklungsländer durch. Wenn die Industriestaaten nicht entschieden gegensteuern, könnten allein durch die Krise jährlich 50 Millionen Menschen zusätzlich von Hunger bedroht sein, warnt Kurt Bangert von der Entwicklungshilfe-Organisation World Vision gegenüber n-tv.de. Alle zwei Minuten würde dann ein Kind zusätzlich sterben, so der Fachmann für Armutsbekämpfung. Dabei seien die Mittel zur Armutsbekämpfung "Peanuts" im Vergleich zu den Summen, die die Industriestaaten derzeit zur Rettung ihrer Finanzsysteme aufbringen. Allein mit 15 Milliarden Dollar könnten sechs Millionen Kinder im Jahr gerettet werden.
Bangert ruft die Industrienationen dazu auf, endlich ihre Versprechen einzulösen und die Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent der Bruttoinlandsprodukte aufzustocken. An die G20-Staaten appellierte er, ihre Ankündigungen auf dem am Donnerstag in London beginnenden Gipfel auch umzusetzen und ihr Bankensystem grundlegend zu reformieren. Es dürfe hier keine Tabus mehr geben.
n-tv.de: Vor einem Jahr hat die Ernährungskrise die Schlagzeilen beherrscht, nun reden alle nur noch von der Wirtschafts- und Finanzkrise. Haben wir die Ernährungskrise schon hinter uns?
Kurt Bangert: Überhaupt nicht. Nach wie vor ist die Ernährungskrise ein großes Problem – und die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise verschärft sie noch drastisch. Aber die Leute, die davon betroffen sind, lädt man nun mal nicht in Talkshows oder zu Interviews ein. Vielmehr ist das eine schweigende Mehrheit, die still vor sich hinleidet.
Wie sieht dieses Leiden aus?
Anfang vergangenen Jahres waren rund 850 Millionen Menschen von Hunger bedroht und hatten weniger als einen Dollar täglich zum Leben. Diese Zahl wird nun vermutlich rapide steigen. Schon allein durch die Ernährungskrise ist man von zusätzlichen 70 bis 150 Millionen Menschen ausgegangen, die verarmen und unterernährt sein werden. Durch die Wirtschafts- und Finanzkrise wird sich diese Zahl nach Schätzungen der Weltbank noch einmal um 50 Millionen erhöhen. Das heißt, künftig wird vermutlich eine Milliarde Menschen von Hunger bedroht sein. Auch die Kindersterblichkeit wird drastisch zunehmen: Sterben im Moment 10 Kinder pro Minute, werden es in Zukunft 11,5 sein. Allein durch die Finanzkrise wird vermutlich alle zwei Minuten ein Kind zusätzlich sterben.
Sind denn die Milleniumsziele, wie beispielsweise die Halbierung der Anzahl der Hungernden bis zum Jahr 2015, überhaupt noch erreichbar?
Man ging schon im Jahr 2000 davon aus, dass die Milleniumsziele nur dann erreicht würden, wenn das achte Ziel auch angemessen erreicht wird - nämlich eine Verdoppelung der offiziellen Entwicklungshilfe. Und da tun sich die Industrienationen mächtig schwer. Ich zweifele, dass die Milleniumsziele pünktlich zum Jahre 2015 erreicht werden können. Dazu ist zu vieles im Moment weggebrochen. Dabei ist das, was notwendig wäre um Armut und Not zu bekämpfen und die Entwicklungsziele zu erreichen, Peanuts im Vergleich zu dem, was jetzt die Industrienationen an Schulden aufnehmen, um sich selbst zu retten.
Aber müssen sich die Industrienationen nicht erstmal selbst stabilisieren, bevor sie anderen Staaten unter die Arme greifen können?
Wenn das Finanzsystem zusammengebrochen wäre, hätte uns das gewiss alle in den Abgrund gestürzt. Deswegen war es schon das Richtige, nach Lösungen zu suchen, wie wir die Finanzmärkte und die Wirtschaft stabilisieren in der Hoffnung , dass auch die ärmeren Länder davon profitieren. Aber das reicht bei weitem nicht aus. Wir sitzen alle in einem Boot. Gleichgültigkeit gegenüber den armen Ländern können wir uns nicht erlauben. Nachdem wir diese Finanz- und Wirtschaftskrise einigermaßen überstanden haben wenn wir sie denn überstehen müssen wir daran gehen, globale Lösungen zu suchen.
Das heißt konkret?
Wir müssen insbesondere die Schuldenberge der Industrienationen abbauen, die wir jetzt gerade kräftig erhöhen. Denn die Schulden bergen das Risiko in sich, dass nicht nur die zukünftigen Generationen zur Kasse gebeten werden, sondern auch der Rest der Welt.
Und das reicht?
Nein. Die Industrienationen müssen die Entwicklungshilfe aufstocken auf die versprochenen 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, sie müssen auf jeden Fall versuchen, die Finanzmärkte zu zähmen und zu kontrollieren. Wir müssen weiterhin große Anstrengungen unternehmen, um die Kindersterblichkeit zu senken, um Hunger, Unterernährung und Müttersterblichkeit zu verringern. Gerade angesichts der dramatischen Entwicklung müssen wir als Industrienationen überlegen: Wollen wir die Entwicklungshilfe für die armen Länder einfrieren oder wollen wir das Notwendige tun und sie aufstocken, wie es schon seit Jahren gefordert wird.
All dies kostet wieder viele weitere Milliarden.
Viele Ziele lassen sich mit relativ wenig Mitteln in den Griff bekommen. Man geht zum Beispiel davon aus, dass man die Kindersterblichkeit um zwei Drittel reduzieren könnte, wenn man 15 Milliarden US-Dollar dafür bereitstellen würde. Das mag viel erscheinen - und doch würden dadurch sechs Millionen Kinder pro Jahr weniger sterben.
Was erhoffen Sie sich vom kommende Woche beginnenden G20-Gipfel?
Dass das, was angekündigt wurde, auch tatsächlich beschlossen wird. Dass die Bankenaufsicht verbessert wird, dass die Ratingagenturen reformiert werden, dass die spekulativen Produkte entweder verboten oder besser reguliert werden, dass die Bonisysteme reformiert werden. Ich wünsche mir auch, dass endlich mal eine Diskussion über eine Welteinheitswährung in Gang kommt. Dafür ist es noch zu früh, aber darüber sollte man ruhig nachdenken ebenso wie über eine Weltzentralbank. Es sollte hier keine Tabus mehr geben.
Quelle: ntv.de, Mit Kurt Bangert sprach Gudula Hörr