Dossier

Muslime in Deutschland Gefahr im eigenen Land?

Mitte der Woche sorgte eine Studie des Innenministeriums für Aufsehen. "Muslime neigen zur Gewalt", lauteten die Schlagzeilen in den kommenden Tagen. Doch bei genauerem Hinsehen ergibt sich ein differenzierteres Bild.

So lehnt die weit überwiegende Mehrheit der Muslime in Deutschland Formen terroristischer Gewalt ebenso ab wie religiös legitimierte körperliche Gewalt. Zudem berichten die rund 1.000 Befragten der Studie "Muslime in Deutschland" nahezu ausnahmslos, dass sie in Deutschland ihre Religion frei ausüben können und dass sie Deutschland wegen der Religionsfreiheit sehr schätzen.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble spricht im Vorwort trotzdem davon, "dass sich in Deutschland ein ernstzunehmendes islamistisches Radikalisierungspotential entwickelt hat". Denn auch diese Zahlen finden sich in der Studie: Fast jeder Zweite bejaht die Frage, ob sich Muslime mit Gewalt verteidigen dürften, wenn der Islam durch den Westen bedroht werde. Knapp sechs Prozent akzeptieren massive Formen politisch-religiös motivierter Gewalt. Fast ein Drittel glaubt, dass Muslime, die im bewaffneten Kampf für den Glauben sterben, ins Paradies kommen.

Ein wieder anderes Bild ergibt sich bei Selbstmordattentaten. Gut 90 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass diese Attentate feige seien und der Sache des Islam schaden. 90 Prozent sind der Auffassung, dass kein Muslim im Namen Allahs andere Menschen töten darf.

Für Schäuble bestätigen diese Zahlen die Gefahr islamistischer Terroranschläge aus der Mitte der Gesellschaft. Dieser "homegrown terrorism" verweise auf die existenzielle Bedeutung der Integration von Muslimen. Eine Bekämpfung der Ursachen der Radikalisierung müsse, so Schäuble, in Kooperation mit den Muslimen geschehen - aber eben auch die deutschen Sicherheitsbehörden einschließen.

Über die Hälfte der Muslime fühlt sich als Ausländer ausgegrenzt

Die ungenügende Integration hat aber auch andere Ursachen. So fühlt sich laut Studie mehr als die Hälfte der Muslime in Deutschland als Ausländer ausgegrenzt. Jeder Fünfte habe innerhalb der vergangenen 12 Monate Ausländerfeindlichkeit erlebt. Neben die individuelle Diskriminierung tritt die gefühlte Unterdrückung der Muslime weltweit. So reagierten 90 Prozent der Befragten wütend auf einen pauschalisierten Terrorismusverdacht.

Auch die jahrzehntelangen Versäumnisse bei der Integration muslimischer Zuwanderer werden aufgezeigt. Bei den Älteren gebe es eine resignative Abwendung von der deutschen Gesellschaft und einen "Rückzug in das wärmende und schützende Umfeld der Migrantenmilieus". Bei den Jüngeren beobachten die Forscher hingegen häufiger die Bestrebung, als selbstbewusste Muslime anerkanntes Mitglied der Aufnahmegesellschaft sein zu wollen. Diese Hinwendung werde allerdings teilweise durch Reaktionen der Deutschen konterkariert.

Wichtig für die Ursachenforschung der Radikalisierung sei deshalb, so die Studie, wie sich die deutsche Gesellschaft gegenüber Muslimen darstelle. Dazu zähle einerseits die Möglichkeit der Teilhabe, andererseits aber auch die Erfahrung der Ausgrenzung. Geringe Schulbildung, niedrige berufliche Qualifikation oder Arbeitslosigkeit verursachten eine geringe soziale Teilhabe.

Dies wird durch den vor wenigen Tagen veröffentlichten Jahresbericht der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Maria Böhmer, bestätigt. Als Thema von zentraler Bedeutung für die Integration hob Böhmer die Bildung hervor. Alarmierend sei die Lage auf dem Ausbildungsmarkt. Dem Bericht zufolge haben derzeit 40 Prozent der Jugendlichen aus Ausländerfamilien keinerlei Berufsausbildung. 72 Prozent der in Deutschland lebenden Türken hätten keine berufliche Qualifizierung.

Die Bildungssituation von jungen Migrantinnen und Migranten müsse verbessert werden, so Böhmer. Als entscheidende Ebene für gelingende Integrationspolitik bezeichnete sie die Kommunen. Denn vor Ort entscheide sich, wie das Zusammenleben gelinge.

Die Religion nimmt eine große Bedeutung ein

Die Studie "Muslime in Deutschland" macht auf einen Unterschied aufmerksam: die hohe Bedeutung der Religion. Bei der überwiegenden Mehrheit bestünden starke religiöse Bindungen, die deutlich stärker seien als bei einheimischen Nichtmuslimen. 40 Prozent der Befragten weisen eine fundamentale Orientierung auf. Bei ihnen spiele die Religion und die Orientierung an festen Regeln und Geboten eine große Rolle im Alltag.

Bei den Jugendlichen, auch unter muslimischen Studenten, stellte die Befragung häufiger antisemitische Haltungen fest als unter nichtmuslimischen Migranten oder einheimischen Nichtmuslimen. Die Extremgruppe der muslimischen Studierenden, die starke religiöse Vorurteile artikulieren, die Demokratie ablehnen oder politisch-religiöse Gewalt akzeptieren, beziffert die Studie mit etwa 15 Prozent.

Insgesamt machten die Forscher aber nur bei etwa zehn Prozent der befragten Muslime eine ausgeprägte Distanz zu Grundprinzipien von Demokratie und Rechtsstaat aus. "Es handelt sich um eine qualifizierte Minderheit der Muslime, für die eine aus einer moralischen Perspektive formulierte Kritik an demokratischen Strukturen, die Befürwortung von Todes- und Körperstrafen sowie ein Primat der Religion vor Demokratie kennzeichnend ist." Verstärkt fanden sich diese Haltungen bei den in Deutschland geborenen Muslimen.

Der Bericht zeigt damit aber auch, dass das Verhältnis von Muslimen und Nichtmuslimen zur Demokratie kaum unterscheide. Demnach führe der Islam nicht zu einer verstärkten Demokratiefeindlichkeit.

Die Studie beschränkte sich auf vier großstädtische Regionen. Wegen der Ausklammerung ländlicher Gebiete weisen die Forscher darauf hin, dass die Studie nicht ohne weiteres auf alle in Deutschland lebenden Muslime übertragbar sei.

Zudem gestehen die Wissenschaftler eine "gewisse" Verzerrung bei der Alterstruktur der Befragten ein. Angesichts der höheren Demokratiedistanz und Gewaltbereitschaft bei den jüngeren Befragten führe diese Verzerrung zu einer "leichten Überschätzung" dieser Faktoren, so die Studie. Trotzdem sehen die Forscher die Ergebnisse im Einklang mit dem Forschungsstand.

Quelle: ntv.de

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