Bundeswehr übernimmt Eingreiftruppe Kein Sieg in Afghanistan
29.06.2008, 11:55 UhrRund 850 deutsche Soldaten gehörten zu Beginn des Einsatzes Anfang 2002 zur Internationalen Afghanistan-Schutztruppe ISAF. Inzwischen stehen über vier Mal so viele Bundeswehr-Soldaten am Hindukusch unter ISAF-Befehl. Der deutsche Einsatz, zunächst auf Kabul beschränkt, wurde auf den Norden ausgeweitet, über den die Bundeswehr 2006 das Kommando übernahm. Im vergangenen Jahr entsandte die Bundesregierung Tornado-Jets. Erst vor wenigen Tagen kündigte das Verteidigungsministerium eine Erhöhung der Obergrenze des Mandats um 1000 auf 4500 Soldaten an. Nun folgt bereits der nächste Schritt: Von diesem Montag an wird die Bundeswehr die Schnelle Eingreiftruppe (QRF) für Nordafghanistan stellen.
Von der Friedenstruppe zur Streitmacht
Nicht nur das deutsche Engagement, das der ISAF insgesamt wurde deutlich ausgeweitet. Umfasste sie am Anfang nur 5000 Soldaten, so stehen heute - neben 13.000 Soldaten der US-geführten Koalitionstruppen - mehr als 52 000 Männer und Frauen aus 40 Staaten unter ISAF-Befehl. Seit Oktober 2006 ist die NATO-geführte ISAF, deren UN-Mandat ursprünglich nur einen Einsatz in Kabul und Umgebung vorsah, im ganzen Land präsent. Aus der einstigen Friedenstruppe ist eine Streitmacht geworden, die viele Todesopfer zu beklagen hat. Obwohl das internationale militärische (und zivile) Engagement stetig weiter verstärkt wurde, ist ein durchschlagender Erfolg ausgeblieben.
Zwar stimmt, was NATO-Vertreter sagen: dass die Taliban nach schweren Verlusten versuchen, den offenen Kampf mit den überlegenen Truppen weitgehend zu vermeiden. Doch das heißt mitnichten, dass das Land sicherer geworden ist. Im vergangenen Jahr sprengten sich rund 160 Selbstmordattentäter in die Luft - 2003, als es erstmals nach dem Sturz der Taliban überhaupt zu Selbstmordanschlägen kam, waren es zwei gewesen. Auch dieses Jahr reißen die Selbstmordattentate nicht ab. Daneben setzen die Taliban auf Sprengfallen. Im ersten Quartal 2008 stieg deren Anzahl im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um rund ein Drittel auf über 430. Im vergangenen Jahr starben in Afghanistan rund 8000 Menschen einen gewaltsamen Tod - doppelt so viele wie 2006.
Westliche Diplomaten und Militärs in Kabul verweisen darauf, dass zahlreiche Taliban-Kommandeure getötet worden seien. Trotzdem sind den Aufständischen in diesem Jahr bislang drei spektakuläre und zuvor so nicht dagewesene Angriffe gelungen, die Planung und Koordination erforderten.
Die Aktionen mit neuer Qualität
So stürmten Rebellen im Januar das einzige Luxushotel des Landes, das Serena-Hotel in Kabul, in dem sich gerade der norwegische Außenminister aufhielt. Im April griffen sie eine Militärparade in der Hauptstadt an, an der Präsident Hamid Karsai und ausländische Diplomaten teilnahmen. Vor gut zwei Wochen befreiten die Taliban in einer Kommandoaktion knapp 900 Häftlinge aus dem Gefängnis in Kandahar-Stadt, darunter fast 400 Rebellen. Hunderte Aufständische überrannten daraufhin Orte im Distrikt Arghandab, nur etwa 20 Kilometer nördlich von Kandahar. Die ISAF sah sich mehrfach genötigt zu versichern, Kandahar - die zweitgrößte Stadt des Landes und wichtigste im umkämpften Süden - sei fest in der Hand der Regierung.
Zwar gelang es mit einer Offensive namens "Umkehr", die Aufständischen wieder aus Arghandab zu vertreiben. Doch auch sechseinhalb Jahre nach dem Sturz ihres Regimes sind die Taliban in Afghanistan noch lange nicht geschlagen - selbst wenn US-Präsident George W. Bush dort bereits 2004 voreilig "den ersten Sieg im Krieg gegen den Terror" ausmachte.
Pakistanische Taliban auf dem Vormarsch
Der Terror der Taliban führt nicht nur auf der afghanischen, sondern auch auf der pakistanischen Seite der Grenze zu ernsten Problemen. In der Nordwest-Grenzprovinz breiten sich pakistanische Taliban immer weiter aus. Journalisten dort spekulieren bereits über die einst undenkbare Möglichkeit, die Provinzhauptstadt Peshawar könnte an die Aufständischen fallen. Nicht nur greifen die Taliban von Pakistan aus Truppen in Afghanistan an, ihr wachsender Einfluss könnte sich auch noch anders auf die ISAF auswirken: Durch die Nordwest-Grenzprovinz führt die wichtigste Überland-Nachschubroute der Schutztruppe - und damit auch der Bundeswehr.
Von Can Merey, dpa
Quelle: ntv.de