Dossier

Schlagkraft gegen Diktatur NS-Opfer-Archiv offen

So unauffällig können Menschenleben aussehen. Sauber sind Kolonnen auf das vergilbte Papier getippt. Geburtsdaten, Berufe, Adressen - und Namen. Wer auf diesem Papier stand, konnte leben. Es ist "Schindlers Liste", mit der der Fabrikant Oskar Schindler das Leben von 1200 Juden rettete, die er bei den Nazis als unentbehrlich für die Rüstungsproduktion ausgab. Heute liegt sie beim Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes (ITS) in der hessischen Kleinstadt Bad Arolsen. Nach mehr als 60 Jahren ist das größte NS-Opfer-Archiv der Welt jetzt der Öffentlichkeit zugänglich.

Bislang hatten nur Opfer oder deren Familien ein Recht auf Einblick. Wer für eine Entschädigung oder Rente Belege brauchte, fand hier alte Arbeitsbücher, Häftlingskarteien und Meldelisten. Oder Totenscheine für die Hinterbliebenen, die in der NS-Zeit noch kleine Kinder waren. Wenn die 70- oder 80-Jährigen heute nach Bad Arolsen kommen und eine Taschenuhr entgegennehmen, eine Brille oder einen Schlüssel, der nirgendwo mehr passt, scheinen sie genauso weit vom Begreifen des Leids entfernt wie damals.

Wo Menschen sich wiederfinden

Bis heute gelingt es in Bad Arolsen, Menschen zusammenzuführen. Vor wenigen Tagen traf eine Amerikanerin ihren Bruder wieder - nach mehr als sechs Jahrzehnten. Doch solche Fälle sind selten geworden. Was bleibt - und bleiben soll -, ist das Papier. Hunderte Meter Regale, Rollschränke und Aktencontainer in fünf Gebäuden. Mehr als 50 Millionen Dokumente. "Das ist unser Kapital", sagt ITS-Chef Reto Meister. "Nirgendwo ist das Leid von 17 Millionen Menschen so präzise dokumentiert."

Aber die Dokumente des Leidens durfte mehr als 60 Jahre nur sehen, wer das Leid selbst erfahren hatte. "Angesichts eines Wiederauflebens des Antisemitismus ist die Öffnung des Archivs dringender denn je", mahnte deshalb vor einem Jahr das US-Repräsentantenhaus. Die elf Vertragsstaaten des ITS hatten schon zuvor vereinbart, dass das weltweit einzigartige Archiv der Welt auch zur Verfügung stehen müsse. Die Frage war nur, wie die Welt die Papiere in der nordhessischen Provinz einsehen sollte.

"Die Antwort war eine Digitalisierungsaktion, wie uns weltweit keine zweite bekannt ist", sagt Archiv-Chef Udo Jost. Fast ohne Pause ließ er die Scanner surren, "jeden Tag, von 7 bis 18 Uhr." 14 Scanner zogen ein Dokument nach dem anderen durch: "Bei unseren Karteikarten ging das einfach, da hat der Automatikscanner 16.000 Stück in der Stunde eingezogen. Aber die meisten Dokumente waren viel zu brüchig." Dann wurden Spezialgeräte eingesetzt, die das Papier mit Unterdruck ansaugten, vorsichtig einlasen und wieder ablegten.

So viel Text wie in 18 Millionen Büchern

"Die Kriegsqualität des Papiers hat uns zu schaffen gemacht. Nicht auszudenken, dass ein Dokument Krieg und sechs Jahrzehnte überdauert und dann vom Scanner zerrissen wird", sagt Jost. Wo es nicht anders ging, war Handarbeit gefragt: Die Totenbücher mussten Seite für Seite mit der Hand umgeblättert werden. So kamen 18 Terabyte Daten zusammen, die auf Festplatten den Staaten übergeben werden sollen. Zum Vergleich: Ein Terabyte ist so viel Text, wie in einer Million Büchern steht.

"Für uns ist das ein neues Kapitel", sagt Meister. "Wir können jetzt viel schneller suchen. Und hoffentlich die Erwartungen der Opfer erfüllen." Früher brauchten die 320 Mitarbeiter viele Monate, um sich durch die Akten zu kämpfen. Der ITS war mit 400.000 Anfragen im Rückstand. "Jetzt sind es wenige Tausend und im Sommer hoffentlich Null." Und wenn irgendwann die letzte Anfrage beantwortet ist, sei das Archiv für die Nachgeborenen verantwortlich: "Etwas Schlagkräftigeres gegen Totalitarismus und Diktatur finden Sie nirgendwo auf der Erde."

Auf dem Ring, den die Überlebenden Oskar Schindler schenkten, soll gestanden haben: "Wer nur ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt." Der ITS-Chef sagt: "Und wenn wir nur einen Menschen über das Leid aufklären, dann hat sich die Öffnung des Archivs schon gelohnt."

Von Chris Melzer, dpa

Quelle: ntv.de

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