Dossier

Mindeststandards im Jugendstrafrecht Nur Einsperren hat keinen Sinn

Das Jugendstrafrecht der europäischen Staaten soll vereinheitlicht werden. Rund 35 Experten aus 30 europäischen Staaten und der Türkei sind dazu in Greifswald zusammengekommen, um über Reformen und Praxismodelle zu beraten. Unter der Leitung des Greifswalder Instituts soll bis Ende 2008 erstmals eine gesamteuropäische Bestandsaufnahme des Jugendstrafrechts erarbeitet werden.

Der Kriminologe Prof. Frieder Dünkel sieht dabei noch erheblichen Nachholbedarf bei einigen EU-Mitgliedern. Trotz der Annäherungen an internationale Standards im Jugendstrafrecht nach den sozialen Umbrüchen in den mittel- und osteuropäischen Ländern gebe es teilweise sehr gegensätzliche kriminalpolitische Ansätze im Jugendstrafrecht. Zwar seien in Osteuropa die Gesetze oft in Anlehnung an westeuropäische Länder formuliert, es hapere allerdings bei der praktischen Umsetzung, sagt Dünkel im Gespräch mit n-tv.de.

"In manchen Ländern entspricht der Strafvollzug nicht den Menschenrechten", so Dünkel. "Wenn 60 bis 70 Jugendliche in einem Schlafsaal zusammengepfercht sind, wie man es aus Filmen des 19. Jahrhunderts kennt, dann hat nichts mit modernem Strafvollzug zu tun." Hier könnten die neuen EU-Mitglieder von Staaten wie Deutschland noch etwas lernen. Dies betreffe auch den Gedanken der Resozialisierung vor Strafe. "Gleich einsperren bei kleineren Delikten macht keinen Sinn, dadurch kann sich die kriminelle Karriere eher verlängern oder sie auslösen, denn im Knast lernen die Jugendlichen von Mithäftlingen nicht immer positive Dinge.", sagt der Greifswalder Wissenschaftler und Projektleiter des EU-Projekts "Jugendstrafrechtssysteme in Europa – aktuelle Situation, Reformentwicklungen und 'gute Praxismodelle'". Die Integration jugendlicher Straftäter gelinge dort am besten, wo sich der Staat mit Strafen zurückhalte.

n-tv.de: Die Konferenz ist die erste von dreien, die dem Vergleich der Jugendstrafrechtssysteme in Europa dienen. Was macht diese Bestandsaufnahme notwendig?

Prof. Dünkel: Das Projekt wurde von der EU in Auftrag gegeben, um auch auf diesem Gebiet in Europa einheitliche Mindeststandards, gerade was die Menschenrechte angeht, anzuregen. Damit sich Länder wie Rumänien oder Bulgarien, aber auch die Türkei orientieren können an Standards, die ja vor dem Fall des Ostblocks entwickelt wurden. Wir wollen aber nicht nur die Gesetze analysieren, sondern auch sehen, wie damit in der Praxis umgegangen wird, wie neue Reformansätze vor allem in den osteuropäischen Ländern ungesetzt werden können. Woran es dort nämlich häufig fehlt, ist die Infrastruktur für die Umsetzung von beispielsweise erzieherischen Maßnahmen im Jugendrecht. In Westeuropa haben wir eine Kultur der Sozialarbeit entwickelt, wir haben Bewährungshilfeorganisationen, die in diesen Ländern erst noch aufgebaut werden müssen. Für diese Länder sind auch Jugendrichter etwas ganz Neues, in Deutschland gibt es eine spezialisierte Jugendgerichtsbarkeit seit 1923. Jugendrichter sind keine normalen Strafrichter. Vielmehr sollen diese Richter in erzieherischen und pädagogischen Fragen besonders geschult sein, um die spezifischen Entwicklungsprobleme von Jugendlichen besser zu verstehen.

Was wären denn die wichtigsten Punkte für europäische Mindeststandards?

Zunächst wollen wir verdeutlichen, dass Jugendliche auch Grundrechte haben, die gewahrt werden müssen. Das bedeutet erstens, dass das gesamte System auf die Wiedereingliederung, die Resozialisierung ausgerichtet sein muss. Zweitens muss die Unterbringung in Jugendanstalten oder geschlossenen Erziehungsheimen menschenwürdig gestaltet sein. In manchen Ländern entspricht der Strafvollzug nicht den Menschenrechten, wenn 60 bis 70 Jugendliche in einem Schlafsaal zusammengepfercht sind, wie man es aus Filmen des 19. Jahrhunderts kennt. Das hat nichts mit modernem Strafvollzug zu tun. In Deutschland gehen wir ebenso wie in Skandinavien vom Prinzip aus, dass eine Einzelunterbringung in der Nacht gewährleistet sein muss, schon um solche Fälle wie den in Siegburg zu verhindern, wo drei Mitgefangene einen Jugendlichen getötet haben.

Der Resozialisierung ist damit aber noch nicht gedient.

Jugendliche brauchen natürlich eine anregende Umgebung, eine Wohngruppe, in der er sich ausprobieren und lernen können. Und vor allem müssen Standards gesetzt werden für die Aus- und Fortbildung. Diejenigen, die im Jugendstrafvollzug einsitzen, haben zu drei Viertel oder mehr keine abgeschlossene Berufsausbildung oder Schulausbildung. Dafür ist der Vollzug verantwortlich, weil der Staat die Verantwortung für die Jugendlichen übernommen hat, indem er sie inhaftiert. Deshalb müssen wir die Jugendlichen angemessen ausbilden, so wie das draußen auch der Fall wäre.

Sie wollen also während des Lebens hinter Gittern stärker auf Bildung und soziale Kompetenzen setzen. Aber spätestens nach dem Knast sieht die Welt für die Jugendlichen dann doch wieder anders aus?

Richtig, Jugendliche finden im Vollzug – jedenfalls in Deutschland – ganz gute Behandlungsprogramme vor, dann werden sie entlassen und sehen monatelang niemanden. Die Nachsorge, die Bewährungshilfe oder auch die Fortsetzung einer Ausbildung sind nicht gewährleistet, auch in Deutschland nicht unbedingt. Es gibt Modellansätze für eine bessere Vernetzung, so dass z.B. eine im Vollzug begonnene Ausbildung nahtlos fortgesetzt werden kann. Dies dient zweifellos der Rückfallprävention. Denn die Schwierigkeiten der jungen Leute liegen vor allem in dieser Übergangsphase. Wenn sie ein halbes Jahr überstanden haben, werden sie in aller Regel auch nicht mehr rückfällig. Deshalb muss man die Jugendlichen in der Entlassungsphase intensiver begleiten.

Was unterscheidet das Jugendstrafrecht vom normalen Strafrecht?

Das Andersartige am Jugendstrafrecht ist, dass man selbst die manchmal schrecklichen Taten nicht allein aus der Perspektive eines tatvergeltenden Strafrechts betrachten darf, sondern versuchen muss, die Hintergründe zu verstehen und vor allem eine adäquate Reaktion zu finden, die dem jungen Menschen Perspektiven für ein straffreies Leben eröffnet und ihn in ein geordnetes Leben führt.

Welche Tendenzen im Umgang mit jugendlichen Straftätern gibt es in Europa?

Es gibt zwei Grundmodelle, das eine ist eher strafrechtlich orientiert auf Verfahrensgarantien und Tatausgleich. Das andere Modell ist eher ein erzieherisches System. Wir in Deutschland haben eine Mischung aus beiden Systemen, was sich in Jugendhilfe und Jugendstrafrecht ausdrückt. Eine dritte Variante, die jetzt immer aktueller wird, ist die der wiedergutmachenden Strafrechtspflege, also eine am Opfer orientierte Strafrechtspflege. Hier wird der Ausgleich zwischen Täter und Opfer angestrebt und es gibt Formen, die auch die Familien einbeziehen in Form von so genannten Familienkonferenzen. Derartige Familienkonferenzen hat man jetzt in Nordirland und Belgien eingeführt.

Das klingt ein wenig romantisch?

Nein, gar nicht. Dieses Verfahren ist natürlich nicht bei allen Straftaten möglich, aber schon bei der Mehrzahl der typischen Jugenddelikte. Von Körperverletzung bis zu Diebstahl und Sachbeschädigung, Vandalismus usw. könnte man Verfahren, die die Wiedergutmachung durch den Jugendlichen in den Vordergrund stellen, einsetzen. In Deutschland gibt es zum Täter-Opfer-Ausgleich viele Projekte und Modelle, die auch ganz gut funktionieren, aber sicher noch nicht in der Breite Anwendung finden.

Welche Idee steht hinter dem Jugendstrafrecht?

Die weithin gemeinsame Philosophie in Europa, die auch durch internationale Untersuchungen belegt ist, beinhaltet, möglichst wenig bzw. zurückhaltende staatliche Intervention, möglichst viel erziehen, also Schulen und das soziale Umfeld des Jugendlichen aktivieren. Den Jugendlichen integrieren, statt ausgrenzen.

Reintegration statt Strafe - Das klingt aber nicht gerade abschreckend?

Weil die Reintegration durch andere erzieherische Systeme in den meisten Fällen letztlich erfolgreich ist, hält sich das Strafrecht in Fällen jugendlicher Kriminalität weitgehend zurück. Die Integration gelingt am besten, wenn der Staat sich mit Strafen zurückhält. Gleich einsperren bei kleineren Delikten macht keinen Sinn, dadurch kann sich die kriminelle Karriere eher verlängern oder sie auslösen, denn im Knast lernen die Jugendlichen von Mithäftlingen nicht immer positive Dinge. Die Formel Integration vor Strafe basiert auf der empirisch immer wieder bestätigten Grundlage, dass die meiste Jugendkriminalität - rund 95 Prozent - episodenhaft ist. Es gibt immer wieder typische Entwicklungsverläufe, dass Jugendliche zwischen 14 und 18 die die Schule schwänzen oder kleinere Delikte begehen, Eigentumsdelikte zum Beispiel. Irgendwann jedoch findet der Jugendliche - durch einen guten Lehrer, Freund, eine Freundin oder einen Ausbilder in der Lehre - einen Weg, um sich in die Gesellschaft zu integrieren.

Welche Stärken und Schwächen hat denn das deutsche Jugendstrafrecht?

Ich sehe viele Stärken, weil wir in Deutschland einen ganz vernünftigen Kurs eingeschlagen haben. Unsere Jugendrichter sind darauf bedacht, dass Taten geahndet werden, dass sie aber auch nicht überreagieren. Studien belegen, dass wir mit der zurückhaltenden Strafpolitik Erfolg haben. Die Rückfallquoten sind bei den nicht freiheitsentziehenden Sanktionen sehr gering. Mängel würde ich vor allem in der personellen Ausstattung sehen. Die Jugendhilfe ist bei den Kommunen angebunden und die haben bekanntlich zu wenig Geld. Deswegen sind die Jugendämter zum Teil nicht ausreichend ausgestattet. Das gleiche Problem der personell unzureichenden Ausstattung gilt für die Bewährungshilfe. Wenn ein Bewährungshelfer 70 und mehr Klienten betreuen muss, kann man sich ausrechnen, dass hier eine echte Betreuung nicht oder nur in Einzelfällen stattfinden kann. Da können wir froh sein, dass die Erfolgsquoten trotzdem so hoch sind und nicht mehr jugendliche Straftäter rückfällig werden. Das ist aber eine tickende Zeitbombe.

Mit Prof. Dünkel sprach Solveig Bach.

Quelle: ntv.de

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