"Arbeitsplatz wie kein anderer" Schweden schafft Wehrpflicht ab
04.08.2010, 08:16 Uhr
Seit 200 Jahren herrscht in Schweden Frieden. Wozu dann noch die Wehrpflicht?
(Foto: dpa)
Fast lautlos wird die Entscheidung gefällt: In Zukunft wird es in Schweden keine Wehrpflicht mehr geben. Nun muss das Militär seinen Bedarf aus dem freien Arbeitsmarkt decken.
Auch Kronprinzessin Victoria weiß aus eigener Erfahrung, was "Lumpen" ist: Der eigenwillige schwedische Alltagsbegriff für die Grundausbildung beim Militär. Alle benutzen ihn, wenn es um ihre Wehrpflicht geht, und deshalb wird man künftig nicht mehr so viel von "Lumpen" hören: Nach 109 Jahren ist die Wehrpflicht bei den Skandinaviern seit 1. Juli abgeschafft. Schwedens Militär muss seinen Bedarf an Soldaten ab sofort auf dem freien Arbeitsmarkt decken. "Wir haben keine Ahnung, wie es funktionieren wird und sind sehr gespannt", sagt Stabssprecher Philip Simon in Stockholm.
In Deutschland schlägt die Debatte um die Wehrpflicht gerade einmal wieder hohe Wellen. Bald will Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg seine Pläne für den Umbau der Bundeswehr vorstellen.
Knappe Entscheidung ohne laute Diskussion
In Schweden ging die Diskussion um die Abschaffung der Wehrpflicht fast lautlos über die Bühne. Die Entscheidung im Reichstag, gefällt drei Tage vor Victorias stürmisch gefeierter Hochzeit mit dem Ex-Wehrpflichtigen Westling und jetzigen Prinz Daniel, fiel mit 153 zu 150 Stimmen knapp aus. Aber ohne dass deshalb die Fetzen geflogen wären. Zu klar war auch für die Befürworter der Wehrpflicht, dass sie seit Ende des Kalten Krieges schon durch die Realität ausgehebelt ist.

Das Militär muss in Zukunft jährlich um 4000 freiwillige Berufssoldaten werben, die im Ausland eingesetzt werden können.
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Bis dahin galt als unerschütterliche Grundlage für Schwedens Verteidigungsanstrengungen die drohende Möglichkeit einer Invasion aus dem Osten. Gegen die Rote Armee aus der früheren Sowjetunion sollten bis zu 800.000 Reservisten, allesamt frühere Wehrpflichtige mit Grundausbildung, mobilisiert werden können - fast zehn Prozent der Gesamtbevölkerung von 9,4 Millionen Bürgern.
Keine Gefahr mehr aus dem Osten
Heute sind Russen vor allem als zahlungskräftige Touristen in Stockholm hochwillkommen. In den letzten Jahren zog das Militär nur noch einen Bruchteil der pro Jahrgang etwa 50.000 wehrpflichtigen jungen Männer zum Grunddienst zwischen sieben und 15 Monaten ein. Wer nicht wollte, brauchte auch nicht.
Für Verteidigungsminister Sten Tolgfors ist die Abschaffung der Wehrpflicht denn auch vor allem eine überfällige Anpassung an völlig veränderte Bedrohungsszenarien mit hoch spezialisierten Auslandseinsätzen statt Massenmobilisierung an heimischen Ostseeufern. "Schwedens Verteidigung ist nicht die beste, wenn sie sich auf die eigenen Grenzen beschränkt."
Angst vor sich verselbstständigender Wehrpflicht

Kritiker der Abschaffung fürchten um einen Verlust von Verantwortung und Zusammenhalt innerhalb der Armee.
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So wirbt das Militär jetzt um die jährlich benötigten 4000 Berufssoldaten auch mit einer vor allem auf Auslandseinsätze gerichteten Werbekampagne. Nach mehr als 200 Jahren Frieden im eigenen Land werden heimische Soldaten derzeit in Afghanistan, im Kosovo sowie gegen Piraten im Golf von Aden eingesetzt. "Klar, diese Einsätze gelten als Attraktion bei denen, die wir ansprechen wollen", sagt Stabssprecher Simon.
Gegen die Abschaffung der Wehrpflicht ist neben den oppositionellen Sozialdemokraten unter anderem auch der frühere konservative Verteidigungsminister Anders Björck: "Seit hundert Jahren haben schwedische Männer hier gelernt, was Zusammenarbeit und gemeinsame Verantwortung bedeuten." Die Sozialdemokraten befürchten vor allem, dass sich das Militär ohne die Verankerung in der Bevölkerung per Wehrpflicht stark verselbstständigen könnte.
Armee als "interessante Warenmarke"
Beim Militär selbst ist die Anpassung an die neuen Zeiten auch schon sprachlich mit Händen zu greifen. Die neuen Berufssoldaten soll mit Frederik Svahn kein hochgedienter Offizier, sondern ein Ex-Manager vom IT-Konzern HP als neuer "Marktchef" anlocken. Svahn spricht in seinen Interviews nicht von Vaterlandsverteidigung oder dergleichen, dafür aber gerne von der Armee als "interessanter Warenmarke". Im Reklamematerial für den ersten reinen Freiwilligen-Jahrgang bei der Grundausbildung 2011 wird der mögliche Auslandseinsatz im heftig umkämpften Afghanistan als "Arbeitsplatz wie kein anderer" angepriesen.
Quelle: ntv.de, Thomas Borchert, dpa