Patagonien-Affäre Wollte Hitler nach Argentinien?
31.03.2009, 08:25 UhrHunderte Argentinier drängeln sich an jenem Tag vor den Vitrinenkästen der Zeitungen in Buenos Aires. "Will Hitler Patagonien erobern?", lesen sie reichlich erstaunt. Es ist der 31. März 1939, mehrere argentinische Zeitungen drucken einen angeblich von der Deutschen Botschaft in Buenos Aires stammenden Brief an das Kolonialpolitische Amt der NSDAP in München. Darin wird Patagonien als Niemandsland klassifiziert, das im Handumdrehen zu annektieren sei. Die Argentinier sind in heller Aufregung, sie fürchten, dass die vielen Deutschen im Land eine Vorhut, eine Art fünfte Kolonne bilden, die den Weg für Hitlers Argentinien-Abenteuer ebnen sollen.
War vor 70 Jahren nach Österreich und der Tschechoslowakei nun das ferne Land am Ro de la Plata wirklich das nächste Ziel Hitlers? Wollte man so die deutsche Sehnsucht nach Kolonien erfüllen? Die Argentinier bekommen es mit der Angst zu tun. Seit Jahren hat sich die Stimmung gegen die rund 230.000 Deutschen und Deutschstämmigen im Land aufgeschaukelt - spätestens seit 20.000 im April 1938 in Buenos Aires den "Anschluss" Österreichs gefeiert haben. Patagonien, diese riesige, menschenleere, von Gletschern und wilder Natur geprägte Region sei tatsächlich kaum geschützt, stellt man fest.
Dokument angeblich gefälscht
Im Verbund mit deutschen Emigranten, die vor den Nazis an den Ro de la Plata geflüchtet waren, fordern viele argentinische Zeitungen drastische Maßnahmen. Mitte Mai wird die NSDAP-Landesgruppe verboten. "Die dokumentierten Gerüchte, dass Hitler Patagonien ähnlich wie Österreich annektieren wollte, riefen selbst in Regierungskreisen Irritationen hervor", sagt der Kölner Historiker Holger M. Meding.
Es herrschte eine fast hysterische Stimmung, doch das Dokument war eine Fälschung. Verantwortlich: Heinrich Jürges. Aus der NSDAP ausgeschlossen, emigrierte er nach Lateinamerika und schloss sich der Schwarzen Front an, einer Gruppe von NSDAP-Dissidenten. Ein Motiv für die Fälschung könnte Rache gewesen sein. Der kanadische Historiker Ronald Newton hält es für erwiesen, dass der britische Geheimdienst seine Finger im Spiel hatte und Jürges unterstützt hat, um so die Stimmung gegen die Deutschen anzustacheln. Die Deutsche Botschaft dementiert sofort heftig, dass der Brief von ihr stamme.
Auch das von Schweizern 1889 gegründete "Argentinische Tageblatt" (AT) veröffentlicht das Jürges-Dokument. "Als die Zeitung den gefälschten Brief veröffentlichte, hat sie das nicht gewusst. Später schon", weist der heutige Herausgeber, Roberto Alemann, den Vorwurf des bewussten Arbeitens mit Fälschungen im Kampf gegen "Nazi-Umtriebe" zurück.
Die Deutsche "La Plata"-Zeitung, Gegenspielerin des AT und Sprachrohr der dem Dritten Reich zugeneigten Deutschen, schäumte. Den Zorn bekommt neben dem "Argentinische Tageblatt" auch die Emigrantenorganisation "Das andere Deutschland" zu spüren. "Pseudodeutsche hetzen mit", titelt die Zeitung. "Geflüchtete Vaterlandsverräter treten in Aktion. Wüste Hetze gegen das Dritte Reich", ist im Untertitel zu lesen.
Markanter Wendepunkt
Die Patagonien-Affäre sei ein markanter Wendepunkt gewesen, sagt der an der Universität Köln lehrende Lateinamerikahistoriker Meding. "Bis zu diesem Zeitpunkt konnte sich der Ableger der NSDAP am Ro de la Plata ziemlich frei entfalten, Propaganda betreiben und einen großen Teil der ansässigen deutschen Gemeinschaft gleichschalten."
Warum aber fielen die Argentinier so leicht auf die Fälschung herein? "Nun, man muss die damaligen Zeitumstände berücksichtigen", sagt Meding. "Das 1932 völlig danieder liegende Deutschland hatte sich zum grenzenlosen Erstaunen der Argentinier in nur sechs Jahren zur Hegemonialmacht Europas entwickelt, hatte Österreich und das Sudetenland annektiert und war in die sogenannte Rest-Tschechei einmarschiert", analysiert der Wissenschaftler und ergänzt: "Im Spanischen Bürgerkrieg hatte man Franco zum Sieg verholfen. Offen wurden nun auch Ansprüche auf Kolonien angemeldet."
Und die Gerüchte fielen auf fruchtbaren Boden, da es in Teilen der Bevölkerung eine Vorliebe für Fantastereien rund um das Dritte Reich gab, wie mehrere Forscher schreiben. Das ist zum Teil bis heute so. Recht erfolgreich im Geschäft ist der Hobbyhistoriker Abel Basti, ein viel verkauftes Buch von ihm heißt "Hitler in Argentinien". Er will eindeutige Beweise gefunden haben, dass Hitler und Gattin Eva Braun per U-Boot 1945 in Argentinien gelandet sind und dort ihren Lebensabend verbracht haben. Der Selbstmord im Führungsbunker sei eine "große Inszenierung" gewesen, ist Basti felsenfest überzeugt.
Quelle: ntv.de