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Zwischenruf Die Bürger werden entscheiden

Von einem Sieg Europas war allenthalben zu hören, nachdem die 27 EU-Staats- und Regierungschefs ihr Einverständnis zum neuen Grundlagenvertragswerk der Union gegeben hatten. Gastgeber Jos Scrates wollte gar eine neue Seite in der Geschichte des Alten Kontinents aufgeschlagen wissen. Dass Portugals Ministerpräsident gerade eine Niederlage hinnehmen musste, fiel offensichtlich keinem der Protagonisten im Centro Cultural de Belm am Tejo auf.

Wenige Kilometer vom Tagungsort flussaufwärts fand in Lissabons "Park der Nationen" auf Initiative von Gewerkschaften und Linksopposition die mit rund 200.000 Teilnehmern größte Protestdemonstration des Landes seit gut zwei Jahrzehnten statt. Eine der Forderungen: Volksabstimmung über den Vertrag.

Dies hatte der sozialistische Regierungschef versprochen, sein Versprechen einzuhalten ist er aber nun nicht mehr gewillt. Wie sein britischer Kollege Gordon Brown, der von der entsprechenden Zusicherung seines Vorgängers Tony Blair abrückte. Einzig Irland will seine Bürger über das Konvolut befinden lassen. Im Rest der Europäischen Union kommt die Befragung des Wählers nicht in Frage. Obwohl Umfragen zufolge gut 70 Prozent der Wähler in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien Referenden wollen.

Es ist gut, dass sich die Spitzen der Mitgliedsstaaten auf einen Text geeinigt haben. Damit setzen sie einen - vorläufigen - Schlusspunkt unter ein monatelanges Gezerre, das dem hehren Ziel der europäischen Integration unwürdig war. Gemeinsame Ziele können nur auf gemeinsamer Grundlage erreicht werden. Wie brüchig diese aber ist, zeigen die Forderungen Italiens und Polens nach einem Vetorecht bei Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat und/oder mehr Sitzen im Europäischen Parlament.

Wie zu erwarten, hat Polens Präsident Lech Kaczyński nach der Einigung denn auch verkündet, dies sei noch nicht das letzte Wort. Es bleibt zu hoffen, dass - und die Chancen stehen so schlecht nicht - Liberale und Sozialdemokraten bei den Parlamentswahlen in Polen am Sonntag so viel Stimmen bekommen, dass auf der Bühne des nationalistischen Kasperletheaters der Kaczyński-Zwillinge endgültig der Vorhang fällt.

Doch selbst, wenn die Quertreiberei aus Warschau ein Ende haben sollte, die Einigung Europas ist damit noch lange nicht erreicht. Es wäre gut, wenn die Regierungen dem Souverän ein direktes Mitspracherecht gestatten würden. Nun, gut. Dies muss ja nicht notwendigerweise über eine Volksabstimmung geschehen. Das Plebiszit findet in Gestalt der Europa-Wahlen 2009 statt. Danach wird man sehen, ob am Ufer des Tejo tatsächlich eine neue Seite im europäischen Geschichtsbuch geschrieben wurde oder ob das Ganze nur eine Fußnote war.

Quelle: ntv.de

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