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Zwischenruf Die Not der Europäer

In Lissabon wirft eine Wählerin ihren Stimmzettel ein.

In Lissabon wirft eine Wählerin ihren Stimmzettel ein.

(Foto: REUTERS)

Die Europäische Union wird so lange nicht mehr als die Summe ihrer Mitgliedsstaaten sein, wie ihr Parlament nicht zu einer wahrhaften parlamentarischen Volksvertretung wird.

Europa hat gewählt? Nein, die Wahlbeteiligung von knapp 43 Prozent bei 375 Millionen Wählern belegt ein sinkendes Interesse an dem historisch einzigartigen Projekt. Die sinkende Frequentierung der Wahllokale seit dem ersten Urnengang 1979 - damals knapp 62 v.H. - bis heute entspricht den gesunkenen Hoffnungen der Menschen auf soziale Verbesserungen und demokratische Mitsprache, steht aber im umgekehrten Verhältnis zu den Versprechungen der Regierenden. Mehr als die Hälfte der Wähler meint, Europa habe für sie keine Bedeutung, oder glaubt, die Möglichkeiten der Einflussnahme wären zu begrenzt. Der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen hat deshalb Recht mit seiner Forderung, das Europäische Parlament müsse die Europäische Kommission wählen. Dafür ist es noch nicht zu spät.

Es bleibt zu hoffen, dass die Regierenden - namentlich in Deutschland, aber nicht nur dort - nicht nur darüber sinnieren, was die Resultate für die kommenden Landtags- und Bundestagswahlen bedeuten. Sonst wird die europäische Dimension des Urnengangs auf die nationale Ebene heruntergebrochen. Die Europawahl wäre dann kaum mehr als die Summe von 27 nationalen Wahlen und 27 Mal ein Test für nationale Wahlen.

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Besorgnis erregend ist, dass im neuen Straßburg-Brüsseler Parlament noch mehr erklärte Gegner der Europäischen Union Vertreten sein werden als bisher: Die rechtsextrem-nationalistischen Kräfte konnten fast überall zulegen. In der Krise wenden sich viele Enttäuschte schwarzbraunen Rattenfängern zu. Sicher: Vergleiche haben ihren Hinkefuß. Aber auch an der Wende von den 20er zu des 30er Jahren hatten faschistische Parteien - nicht nur in Deutschland - wachsenden Zulauf.

Der konservativ-christdemokratische Block hat verloren, bleibt aber stärkste Kraft. In den meisten EU-Ländern sind es gerade diese Kräfte gewesen, die dem Neoliberalismus Tür und Tor geöffnet haben. Eine Mehrheit der EU-Europäer setzt in Krisenzeiten ganz offensichtlich aus Angst vor noch Schlimmerem auf Kontinuität. Dort, wo Sozialdemokraten die Haupt- oder eine Mitverantwortung an der gegenwärtigen Situation haben, wurden sie gnadenlos abgestraft. Siehe Großbritannien und Deutschland, wo der Salto Mortale zwischen wirtschaftsfreundlich und sozial zum Salto Nullo wurde.

Erstaunlich ist der fast durchgängige Zuwachs bei den Grünen. Ihnen gelang es, die Sehnsucht der Menschen nach sozialen Verbesserungen und Umweltschutz bei Aufrechterhaltung der herrschenden Verhältnisse überzeugender als andere zu artikulieren. Die Linke hat sich stabilisiert, konnte in Deutschland, Irland, Frankreich, Spanien, Griechenland, Portugal und Zypern in unterschiedlichem Maße dazu gewinnen. Gleichwohl widerspiegelt der vergleichsweise niedrige Stimmenanteil, dass ihre Vorschläge auch von sozial Schwächeren als Gefahr für ihren gesellschaftlichen Status Quo und nicht als Alternative begriffen werden.

Summa summarum ist die Europawahl eine Widerspiegelung nationaler Stimmungslagen, die nur ein geringer Teil der 375 Millionen Wähler als politische Projektionsfläche begreift. Die Europäische Union wird so lange nicht mehr als die Summe ihrer Mitgliedsstaaten sein, wie ihr Parlament nicht zu einer wahrhaften parlamentarischen Volksvertretung wird. Diz ist der Eurôpâe noth.

Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.

Quelle: ntv.de

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