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FDP bestimmt den Corona-Kurs Falsches Freiheits-Verständnis führt Ampel in die Irre

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Bundeskanzler Scholz hat FDP-Chef Lindner im Nacken.

(Foto: picture alliance/dpa/AFP-Pool)

Die Bundesregierung kann sich trotz eindringlicher Warnungen ihrer eigenen Experten nicht durchringen, schon vor Weihnachten drastische Maßnahmen im Kampf gegen die Omikron-Variante zu verhängen. Der kleinste Partner der Koalition gibt die Richtung vor. Dabei hat die FDP in Fragen der Pandemie eine zentrale Lektion nicht verstanden.

Bürgerrechts- und Datenschutzaktivisten haben seit dem Eintritt der FDP in die Bundesregierung den einen oder anderen Champagnerkorken knallen lassen. Das Rechtsstaats- und Freiheitsverständnis der FDP ist ein wichtiges Korrektiv für Deutschlands liberale Demokratie, wie sich beispielsweise bei der geplanten Abschaffung des Paragrafen 219a oder der Vorratsdatenspeicherung zeigt. Aber ausgerechnet in den zwei wichtigsten Krisen der Gegenwart, der Pandemie und der Klimakrise, irrt die FDP gewaltig. Und der neue Kanzler, der Sozialdemokrat Olaf Scholz, setzt diese irrige Annahme in praktische Politik um: dass Freiheiten auch nicht in Ausnahmefällen präventiv eingeschränkt werden dürften. So aber wird Deutschland nie vor die nächste Corona-Welle kommen, sondern immer erst aus dem Mustopf steigen, wenn es schon viele vermeidbare Opfer gegeben hat.

Die zweite Ministerpräsidentenkonferenz seit Scholz' Amtsantritt ist exemplarisch für den Irrweg, auf den sich die Ampelregierung vom kleinsten der drei Koalitionspartner hat treiben lassen. Das eigene Expertengremium warnt am Sonntag eindringlich vor den Auswirkungen der Omikron-Variante. Offenbar geprägt von der bisherigen Erfahrung, dass die Corona-Politik zu oft hinter den Forderungen des regierungseigenen Robert-Koch-Instituts zurückbleibt, fordert dessen Präsident Lothar Wieler kurz vor Beginn der Konferenz in einem ungewöhnlichen Schritt drastische Maßnahmen schon jetzt statt erst nach Weihnachten. Doch die Bund-Länder-Runde kann sich darauf nicht verständigen.

Der FDP-Weg ist eine Wette mit hohem Einsatz

Weder wird die Ruhe zum Jahreswechsel durch verlängerte Kita- und Schulferien in den Januar bundesweit fortgeschrieben, noch gibt es bundesweite Schließungen in Einzelhandel, Gastronomie und Hotellerie wenigstens bis Ende Januar, wenn das von der MPK ausgegebene Ziel von weiteren 30 Millionen Impfungen erreicht sein soll. Die für Schließungen nötige Wiedereinführung der epidemischen Lage nationaler Tragweite soll frühestens am 7. Januar beschlossen werden - je nachdem, ob die Omikron-Variante dann schon in Deutschland zu wüten begonnen hat. Die Bundesregierung verpasst es so, Unternehmen und Familien Planungssicherheit zu geben. Und das nur in der Hoffnung, ihr Versprechen doch noch aufrechterhalten zu können, dass Kinder nicht mehr zu Hause bleiben müssen und die schwer gebeutelte Gastro-Branche und der Einzelhandel nicht erneut belastet werden. Doch zahlreiche Wissenschaftler sind sich sicher, dass das nicht zu vermeiden sein wird.

Deutschland stand am Dienstag vor der Wahl: Lockdown jetzt oder erst einen möglichen Teilkollaps des Versorgungssystems abwarten, um dann einen harten Lockdown zu verhängen. Die gewählte Strategie folgt dem alten Prinzip Hoffnung, dass die Corona-Experten diesmal irren und es schon nicht so schlimm kommen werde. Es ist eine riskante Wette. Vor allem die FDP ist gewillt, sie einzugehen. Mit Glück kann sie später sagen: "Recht gehabt, Freiheit verteidigt!". Diese Perspektive auf einen Triumph haben Lockdown-Befürworter nicht. Wenn Corona-Maßnahmen greifen, eskaliert nichts und niemand weiß nachher mit Sicherheit, ob es an den Maßnahmen lag oder diese gar nicht erst nötig gewesen wären. Wer auf Applaus hofft, setzt daher besser auf die FDP-Wette. Dass bei SPD und Grünen nicht überall so viel Spielfreude herrscht, demonstrieren das Sondervotum des grün-geführten Baden-Württemberg und die strengeren Regeln in den SPD-regierten Bundesländern Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern.

Im Blindflug durch den Jahreswechsel

Scholz' Nachgeben gegenüber der FDP ist doppelt riskant: Deutschland droht nicht nur hinter die fünfte Welle zu fallen, anstatt sie präventiv abzufangen, Deutschland geht auch in den kollektiven Blindflug. Omikron ist bereits im Land, wird sich aber in den kommenden zwei bis drei Wochen relativ unbeobachtet aufbauen, bevor das exponentielle Wachstum seine Wucht schlagartig entfaltet. Schon rund um den vergangenen Jahreswechsel kam es zu großen Meldeverzögerungen. Auch Praxen und Labore machen schließlich Ferien, Schüler und Arbeitnehmerinnen sind zwischen den Jahren dem Testsystem entzogen. Es könnte sein, dass die MPK deshalb auch bei ihrem geplanten Wiedersehen am 7. Januar noch keine vollständige Übersicht über das Omikron-Geschehen hat. Will die Ampel dann einen Lockdown auf Verdacht hin erneut aufschieben? Den Menschen im Januar und Februar die Ferien zu vermiesen, ist auch nicht angenehmer zu vermitteln, als strengere Regeln schon in der Woche vor Weihnachten zu verhängen. Es sei denn, man braucht die Eskalation der Lage als Argumentationshilfe. Das aber wäre feige.

Angesichts der weiterhin breiten Zustimmung in der Bevölkerung zu konsequenten Corona-Maßnahmen hätte sich Scholz zu mehr Mut aufraffen und Unmut beim kleinsten Koalitionspartner riskieren müssen. Der wird auch in Zukunft Freiheitsbeschränkungen immer erst dann zustimmen, wenn der Anlass für diese Einschränkungen längst eskaliert ist. Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz hat die FDP offenbar noch nicht gelernt: Karlsruhe hatte im Sommer die Bundesregierung zu ambitionierteren Klimazielen in der Gegenwart verdonnert, damit die Menschen in der Zukunft nicht noch drastischere Einschränkungen auferlegt bekommen, weil bei der Dekarbonisierung aufgeholt werden muss, was heute verpasst wurde. Kurz gesagt: Wer gegen individuelle Einschränkungen mit dem Verweis auf eine Klimadiktatur argumentiert, provoziert, dass in der Zukunft tatsächlich die radikalen Maßnahmen notwendig werden, vor denen man sich drücken wollte. Mit der vermeintlichen Corona-Diktatur verhält es sich ähnlich. Sollten im neuen Jahr erhebliche Teile der kritischen Infrastruktur nur noch eingeschränkt arbeiten, wären die individuellen Kosten viel höher, als wenn jetzt schon ein Lockdown käme. Das muss die Ampel den Bürgerinnen und Bürger sowie sich selbst klarmachen - insbesondere der selbsterklärten Rechtsstaats- und Wissenschaftspartei FDP.

Quelle: ntv.de

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