Zwischenruf Politik als Kunst des Möglichen
22.10.2008, 12:58 UhrNicolas Sarkozy ist immer für eine Überraschung gut. Seine Forderung, die EU-Staaten sollten ihre Schlüsselindustrien verstaatlichen und sie nach dem Ende der Krise wieder - mit Gewinn, so hofft er - verkaufen, hat 15er wie 27er Gemeinschaft völlig unvorbereitet getroffen. Er hatte sich dafür ein gutes Forum ausgesucht: das Europaparlament. Mehr Bürgernähe des Gremiums war schließlich stets eine von allen unterschriebene Forderung. Dessen Spitzensozialdemokrat Martin Schulz legte dem Konservativen euphorisch gar den sofortigen Beitritt zur Sozialistischen Partei Europas nahe.
Schulz' SPD hingegen hält sich bedeckt; dort ergötzt man sich am Krisenmanagement von Peer Steinbrück. Zukunftsweisende Ideen fehlten auf dem Sonderparteitag vom Wochenende. Auch die namentlich nicht genannte Hauptadressatin Angela Merkel schweigt tapfer, denn sie müsste sich offen gegen ihren französischen Partner stellen. Dafür ist die Ablehnung aus den Reihen der Unionsminister und -parlamentarier umso lauter.
Der Finger auf der Wunde
Sarkozy geht aber noch weiter: Er fordert eine europäische Wirtschaftregierung und de facto ein Ende der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank. Unterstützt wird er dabei vom Alteuropäer Valry Giscard d'Estaing, spiritus rector des ursprünglichen EU-Verfassungsentwurfs.
Zweifellos hat Sarkozys Vorschlag eine innenpolitische Komponente. Blitzumfragen ergaben, dass seine Popularitätsquote von zuletzt 33 auf 43 Prozent hochschnellte, vor allem bei sozialistischen und kommunistischen Wählern. Das Problem bei Speedy Sarko ist, dass seine Vorstöße vielfach nicht abgestimmt sind; auch seine lächerlichen Affären machen es leicht, ihn als Spinner abzutun, der die Pistole schon für den nächsten Schnellschuss durchlädt. Und: Wie kann einer, der gestern gerade das Nationalsymbol La Poste privatisiert hat, jetzt Verstaatlichungen fordern?
Doch Frankreichs erster Mann legt den Finger auf die Wunde: Das EU-Management in der Finanzkrise war nur auf den ersten Blick supranational. Die konkreten Lösungen musste jedes Land bittschön für sich selbst finden. Die einstige deutsch-französische Lokomotive droht endgültig auf dem Abstellgleis zu landen. Der gegenwärtige EU-Ratspräsident nutzt die Lethargie der einstigen Finanzsupermacht USA und will das Vakuum europäisch ausfüllen. Darin läge durchaus eine Chance. Auch die Überlegung, durch - temporäre oder nicht - Verstaatlichungen Eingriffen aus Russland, arabischen Staaten und China zuvorzukommen, ist so falsch nicht. Die dafür bereitstehenden Fonds liegen allesamt fest in der Hand der Regierungen in Moskau, Peking oder Dubai, die in Geld nur so schwimmen. Wer garantiert, dass bei wahrscheinlicher Stagnation und möglicher Rezession der Realwirtschaft in besagten Hauptstädten nicht zuungunsten der nationalen Interessen Deutschlands oder Frankreichs oder, oder, oder entschieden wird?
Neue Machtzentren
Sarkozys Pläne signalisieren nach dem Fiasko des Neoliberalismus auch das Ende der westlich dominierten Globalisierung. Neue Machtzentren entstehen, wie jetzt das OPEC-ähnliche Erdgaskartell aus Russland, dem Iran und Katar. Weitere werden folgen. Zugleich wird jede Regierung künftig stärker daran denken müssen, dass ihr das Hemd näher sitzt als der Rock. Nationalstaatliches Handeln erhält künftig wieder ein erheblich höheres Gewicht
Wer glaubt, Sarkozys Eifer werde mit der Übergabe der EU-Ratspräsidentschaft nachlassen, täuscht sich. Da Prag, das am Neujahrstag die Geschäfte übernimmt, in einer tiefen Regierungskrise steckt, wird Tschechiens Präsident Vclav Klaus für ein halbes Jahr EU-Europas Stimme sein. Klaus ist ein erklärter EU-Gegner. Genug Spielraum für Sarkozy, peu peu Unterschriften für seine Projekte zu sammeln. Man täusche sich nicht: Am Ende hat Deutschland gezwungenermaßen sogar Sarkozys Mittelmeerunion zustimmen müssen, auch wenn es nicht ganz so lief, wie der es wollte. Politik ist und bleibt nun einmal die Kunst des Möglichen.
Quelle: ntv.de