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Zwischenruf Quo vadis, Germania?

Die deutsche Parteienlandschaft ist in Bewegung gekommen. Nicht erst seit den jüngsten Landtagswahlen. Nach dem Ende der Ära Kohl hat schrittweise, und mit der so genannten Agenda 2010 ein Umbau des Sozialgefüges eingesetzt, der von einer wachsenden Zahl der Bundesbürger nicht angenommen wird. Während die Einkommen aus Kapitalvermögen in die Höhe schossen, gingen die Arbeitnehmereinkünfte in den Keller: Deutschland war der einzige Industriestaat, in dem die Reallöhne sanken. Der leichte Anstieg im vergangen Jahr droht durch Mehrwertsteuererhöhung und Inflation wieder platt gemacht zu werden. Gleichwohl: Niemand hierzulande muss hungern. Das ist eine große Errungenschaft, die nicht zu unterschätzen ist. Die Schere aber zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Im Gefolge des Sozialumbaus lebt eine für unser reiches Land inakzeptabel große Anzahl von Menschen an oder unter der Armutsgrenze. Kinderarmut sowie Kinder- und Jugendkriminalität haben beängstigende Ausmaße angenommen.

Sowohl CDU als auch SPD sahen sich gezwungen, verbal, aber auch in der politischen Praxis von Auswüchsen dieser Entwicklung Abstand zu nehmen und sich sozial zu profilieren. Nicht zufällig spielt bei den Christdemokraten das Leipziger Programm kaum eine Rolle mehr, nicht zufällig haben die Sozialdemokraten ihr Hamburger Programm beschlossen. Diese Entwicklungen werden aber von vielen als halbherzig und wahltaktisch wahrgenommen.

Vor diesem Hintergrund nahm das politische Gewicht, zunächst der PDS, dann der WASG zu. Als sich beide Parteien zur LINKEN zusammenschlossen, wuchs der Druck auf die großen Parteien, sich vom Neoliberalismus zu distanzieren. Die LINKE wurde auch im Westen wählbar. Sie verlor den Nimbus der Ostpartei und wandte sich den sozialen Themen vor Ort zu. Nun muss die Linke in den alten Bundesländern den Beweis antreten, dass sie auch aus der Opposition heraus in der Lage ist, sozialpolitische Entscheidungen zu beeinflussen. Den Beweis ist die Partei in Bremen wegen skandalträchtiger Personalquerelen bislang schuldig geblieben. In Hessen und Niedersachsen scheinen die Voraussetzungen besser zu sein.

Die LINKE wird sich aber nur dauerhaft etablieren können, wenn sie sich von einer Protestpartei gegen soziale Ungerechtigkeit zu einer Partei für die Gestaltung von Wirtschafts- und Sozialpolitik entwickelt. Im Osten hat sie den Sprung geschafft. Weder ein sozialistischer Arbeitsminister in Schwerin noch ein PDS-Wirtschaftssenator in Berlin haben die marktwirtschaftlichen Grundlagen der Wirtschaft ihrer Bundesländer zerstört. Trotz der beachtlichen programmatischen Schnittmengen der LINKEN mit der SPD und den Grünen scheint deren Regierungsbeteiligung im Westen kurzfristig unmöglich. Sozialdemokraten wie Grüne würden nicht nur Wahlversprechen brechen, sondern auch einen nicht zu unterschätzenden Teil ihrer Anhänger und Wähler verprellen. CDU und FDP stünden bereit, die Abgefallenen aufzufangen.

Nach den Urnengängen in Hessen und Niedersachsen muss Mutter Germania sich wohl demnächst in Hamburg auf die LINKE im Landesparlament einstellen. Um den Zuwachs in Grenzen zu halten werden Christ- wie Sozialdemokraten in der Freien und Hansestadt im Wahlkampf ihren sozialen Anspruch noch stärker betonen.

Das politische Spektrum hat sich nach den Wahlen vom Sonntag also nach links verschoben, nicht nur wegen des Erfolgs der LINKEN. Dies ist eine für europäische Verhältnisse nicht untypische Entwicklung. Deshalb muss aber niemand befürchten, dass demnächst ein Marineschnellboot seine Geschütze auf das Bundeskanzleramt richtet und das Signal zum Sturm gibt. Magst also weiter ruhig sein, lieb' Vaterland.

Quelle: ntv.de

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