
Die Feuerwehr Berlin war in der Silvesternacht im Dauereinsatz. Dabei wurde sie auch selbst zum Opfer von Gewalttaten.
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Nur wenige Stunden nach den Silvesterrandalen fällen Politiker wie Jens Spahn ihr Urteil: Die Täter haben offenbar keine deutschen Wurzeln - schuld sei also eine gescheiterte Integration. In dieser Debatte auf Pauschalurteile zu setzen, ist jedoch nicht nur kontraproduktiv, sondern auch gefährlich.
Nach den Eskalationen in der Silvesternacht vergehen nicht einmal 48 Stunden, da scheint Unionsfraktionsvize Jens Spahn die Ursache gefunden zu haben: Es gehe nicht um Feuerwerk, sagte der CDU-Politiker "t-online", sondern "eher um ungeregelte Migration" und eine "gescheiterte Integration". Spahn trifft diese Aussage zu einem Zeitpunkt, zu dem weder die Polizeistationen noch die Innenministerien jener Länder, in denen Rettungsfahrzeuge angegriffen und Einsatzkräfte behindert wurden, Angaben zu Tätergruppen gemacht haben. In dieser Debatte auf Schnellschüsse und Pauschalurteile zu setzen, ist aber nicht nur kontraproduktiv, sondern auch gefährlich.
Trotzdem ist Spahn bei Weitem nicht der einzige Politiker aus Union und FDP, dem es schon kurz nach der Silvesternacht leicht fällt, scheinbar fundierte Aussagen über die Tätergruppe zu treffen. Parteikollegen wie Christoph de Vries oder die FDP-Abgeordnete Katja Adler sprechen von "Personen Phänotyps: westasiatisch, dunklerer Hauttyp" und von "kultureller Überfremdung" im Zusammenhang mit den Krawallen. Auch jene, die nie um ein Statement verlegen sind, wenn es um die harte Hand des Staates bei Menschen mit Migrationshintergrund geht, nutzen die Gelegenheit. Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) raunt im Gespräch mit dem "Focus" von einem "Migrantenmilieu", aus dem die Täter stammten.
Am Mittwoch fällt die Bundesregierung schließlich ein ähnlich klingendes Urteil: "Wir haben in deutschen Großstädten ein großes Problem mit bestimmten jungen Männern mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten, Gewalttaten begehen und mit Bildungs- und Integrationsprogrammen kaum erreicht werden", sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser der Funke-Mediengruppe.
Die Nationalität der Täter spielt eine Rolle
Nun mag es manch einer links-grün-naiv, nennen, Aussagen wie diese zu kritisieren. Wieder einmal wolle jemand verbieten, die Herkunft der Täter zu benennen, schießt es dem ein oder anderen vielleicht durch den Kopf. Doch darum geht es nicht. Natürlich darf man über die Nationalitäten jener sprechen, die in der Silvesternacht mit Böllern auf Menschen zielten und Einsatzkräfte angriffen. Man muss es sogar.
Rund drei Tage nach der Silvesternacht gab die Polizei die Nationalitäten der Täter aus Berlin bekannt: Unter den 145 Festgenommenen gibt es 18 Nationalitäten. Rund ein Drittel haben zumindest den deutschen Pass, danach folgen 27 Verdächtige mit afghanischer Nationalität und 21 Syrer. Doch diese Personengruppe hat mehr als ihre Migrationsgeschichte gemein: Probleme wie schlechte Bildung, ein hoher Armutsanteil, mangelnde Teilhabe und fehlende Zukunftsperspektiven, die vor allem in Stadtteilen mit einem hohen Migrationsanteil wie etwa Berlin-Neukölln gehäuft zu finden sind, müssen bei der Aufarbeitung der Silvesternacht mit Sicherheit ebenso eine Rolle spielen.
Allerdings ist es eben nicht das, was Faeser, Spahn und Co. mit ihren Schnellanalysen vermittelt haben. Wenn Teile der größten Oppositionspartei sowie die Innenministerin selbst kurz nach einem Ereignis wie der Silvesternacht reflexartig und ohne weitere Erklärung auf Migranten - beziehungsweise deren Kinder und Enkel - zeigen, entsteht vielmehr ein ganz anderer Eindruck: Der Migrationshintergrund war das Problem, Punkt. Der Übeltäter heißt Einwanderung - per se. Das verkürzt die Ursachenforschung nicht nur auf gefährliche Weise und diffamiert pauschal weite Bevölkerungskreise, sondern ist auch offensichtlich falsch.
Die Ursachen der Gewalt sind vielfältig
Die Silvesternacht eskalierte in zahlreichen Städten Deutschlands. Nicht nur in Berlin, sondern auch in Städten wie Bonn, Hagen, Leipzig, Hannover und Hamburg wurden Polizei und Feuerwehr mit Pyrotechnik angegriffen und verletzt. Eine belastbare bundesdeutsche Übersicht über die Silvester-Krawalle, vor allem über ihre Täter, hat das Bundesinnenministerium erst für die nächsten Tage angekündigt. Sammelt man die Meldungen einzelner Länder und Kommunen zusammen, wird schnell deutlich, dass es sich bei den Verdächtigen zwar flächendeckend überwiegend um junge Männer handelt. Es wird jedoch auch deutlich, dass die Silvester-Gewalttaten nicht ausschließlich auf Menschen mit Migrationshintergrund zurückzuführen sind. Hamburgs Innensenator Andy Grote erklärte etwa, dass die "Gruppen mit hohem Gewaltpotential" unterschiedlich seien.
Der Gewalt- und Konfliktforscher Swen Körner hält die Ausschreitungen im Gespräch mit ntv.de weder für ein migrantisches noch für ein neues Phänomen. Die Täter seien "zunächst einmal junge Menschen, die Gewalt angewendet haben". Er hält weder die kollektiven Gewaltausbrüche bei Veranstaltungen noch die Adressaten dieser Gewalt für neu. "Das Auflehnen gegen staatliche Behörden kennzeichnet Jugendkulturen schon immer. Diesmal geschieht es eben mit Böllern", sagte Körner. Vielmehr, als die Migrationsdebatte zu führen, würde es Körner zufolge helfen, sich die Taten genauer anzuschauen. Dafür müsse man verstehen, was Migration eigentlich bedeutet, so der Experte.
So steckt hinter dem hohen Gewaltpotential oft eines, wie Ralf Gilb, Streetworker aus Berlin-Neukölln im Gespräch mit der "taz" deutlich machte: "Frust." Frust über die hohe Armutsquote im eigenen Viertel und die damit einhergehende Perspektivlosigkeit. Und Frust über Erfahrungen mit Ausgrenzung und Rassismus - auch innerhalb der Behörden. All diese Rahmenbedingungen müssen bei der Aufarbeitung der Silvesterereignisse mitgedacht werden.
Die Folgen des Generalverdachts
Warum also setzen Politiker wie Spahn und Faeser auf die Migrationskarte, wenn die Ursachen doch offensichtlich deutlich komplexer sind? Weil es einfach ist. Menschen - potentielle Wähler - sind anfällig für einfache Lösungen. Mit ihren Schnellschüssen und Pauschalurteilen bedienen und befeuern sie den ersten Aufschrei - vor allem aus dem rechtskonservativen Lager. Nun fühlen sich die gehört, denen die Nationalität der Täter ohnehin wichtiger ist als echte Ursachenbekämpfung und die bestätigt, die ihren Hass auf Zugwanderte offen zur Schau stellen. Auf deren Stimmen haben es Spahn, de Vries und Faeser offenbar abgesehen.
Allerdings nicht ohne Folgen. Mit ihren vereinfachten Aussagen befeuern die Oppositions- und Regierungsvertreter den Generalverdacht gegen Migranten. Zu was eine solche von Emotionen und Alarmismus geführte Debatte führen kann, wurde vor einigen Jahren - nach der Kölner Silvesternacht 2015 - deutlich. Damals begingen Dutzende junge Männer, viele von ihnen mit Migrationshintergrund, schwere Straftaten. Deutschland ist die Gratwanderung zwischen Strafen und Konsequenzen auf der einen Seite und der Ursachenaufarbeitung ohne Pauschalisierungen auf der anderen Seite damals nicht gelungen. Integrationsbeauftragte und Ausländerbehörden berichteten, dass ihre Arbeit zwar wichtiger, aber auch deutlich erschwert wurde. Wenn das Feindbild "Migrant" jede Debatte überlagert, ist gute Integration nicht mehr möglich.
Noch hat Deutschland die Chance, es dieses Mal besser zu machen. Die Gewalttäter der vergangenen Silvesternacht durch angemessene Strafen in die Schranken zu weisen, ohne auf Pauschalurteile zu setzen. Integration für gescheitert zu erklären, hilft nichts. Sie muss offensichtlich mehr denn je vorangebracht werden. Die Ursachen des hohen Gewaltpotentials müssen erforscht, die Lebensumstände verbessert und Jugendarbeit geleistet werden. Dass eine solch differenzierte und nachhaltige Herangehensweise möglich ist, machte jüngst Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul deutlich. Die Silvester-Krawalle beträfen sowohl migrantische als auch nicht-migrantische Bürger, sagte der für seine harte Linie im Umgang mit Straftätern bekannte CDU-Politiker im "Deutschlandfunk". Das Problem sei die "zunehmende Brutalität und nachlassende Hemmschwellen". Am Wichtigsten sei jedoch eines: "erst mal ermitteln."
(Dieser Artikel wurde am Donnerstag, 05. Januar 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de