Panorama

Migrations-Debatte "Mit Stigmatisierung lösen wir kein Gewaltproblem"

389844431.jpg

Feuerwehrleute mussten in der Silvesternacht in Berlin auf die Polizei warten, um löschen zu können.

(Foto: picture alliance/dpa)

Nach den gewalttätigen Silvestervorfällen in Berlin und anderen Städten gibt es viele Einschätzungen, wie es dazu kommen konnte. Gewalttrainer und Konfliktforscher Swen Körner sieht das äußerst kritisch, denn Fakten werden dabei nicht genügend berücksichtigt. Das schaffe mehr Probleme als es löst.

ntv.de: Inwieweit ist die migrantische Herkunft von Tätern eine Erklärung für die Angriffe zu Silvester?

Swen Körner: Sie liefert einen mutmaßlichen Erklärungsansatz, wobei ich genau an dem auch gern gleich kritisch ansetzen möchte. Wir müssen uns schon die Zeit nehmen, genau zu analysieren, wer ist es gewesen und was ist eigentlich passiert. Dazu gibt es - Stand jetzt – noch nicht genug Informationen. Die große Gefahr besteht darin, wenn wir jetzt schon über Gruppierungen sprechen, beispielsweise über Menschen mit Einwanderungshintergrund oder über andere Formen der Zugehörigkeit, dass es in der öffentlichen Meinung sehr schnell zu einer Verallgemeinerung kommt. Das führt zu Alarmismus und einer Emotionalisierung der Debatte, die nicht zielführend ist.

In Berlin gibt es bereits ein paar Fakten zu den Festgenommen. Es sind überwiegend Männer, insgesamt wurden 18 verschiedene Nationalitäten erfasst. Etwa ein Drittel hatte die deutsche Staatsbürgerschaft. Was sagt das über diese Gruppe aus?

Es sagt etwas über den Männer- und Frauenanteil und etwas über die Pässe. Aber die Frage ist doch, was ist daran relevant? Wenn man darauf schauen möchte, inwieweit sind die Angriffe das Symptom einer noch nicht gelungenen Integration, für Parallelgesellschaften, für eine verrohende Gesellschaft und Jugendkultur, dann könnte man diesen Zugang wählen. Zunächst einmal sind es aber junge Menschen, die Gewalt angewendet haben. Aber das hatten wir auch 2020, das hatten wir in der Silvesternacht 2015/2016, und das haben wir auch bei so gut wie jedem Bundesligaspiel. Da prügeln sich regelmäßig Männergruppen mit staatlichen Behörden und es kommt zu Verletzungen von Einsatz- und Rettungskräften. Kollektive Gewaltausbrüche sind ein Phänomen, das wir immer wieder beobachten können. Deshalb sehe ich als Wissenschaftler jetzt keine besondere Singularität des Ereignisses. Es ist kein neues Zeitalter angebrochen und wir erleben auch keine neue Qualität der Gewalt.

Die Tatsache, dass Feuerwehrleute, Rettungssanitäter und Polizisten angegriffen werden, gehört trotzdem zum Bild dazu. Das sind ja Berufsgruppen, die Menschen helfen und die Gesellschaft am Laufen halten. Damit erscheinen die Angriffe besonders irrational. Warum werden diese Menschen angegriffen?

Sie werden regelmäßig angegriffen, aber nicht so häufig, wie man denken könnte. Wir haben in den letzten drei Jahren die Daten von Rettungskräften aus dem Rhein-Main-Gebiet erhoben. Das waren ungefähr 300.000 Einsatzdaten. Die Zahl der körperlich-gewalttätigen Übergriffe liegt bei knapp über 20. Ihre Sichtbarkeit beginnt also an der dritten Nachkommastelle. Jeder einzelne Fall davon ist schlimm und zu verurteilen. Dennoch ist die Diagnose einer zunehmenden Gewalt zu pauschal, faktisch nimmt die Gewalt an vielen Stellen nicht zu. Beispielsweise hat die Zahl der getöteten Polizisten in den letzten Jahrzehnten sogar deutlich abgenommen. Warum Rettungskräfte überhaupt angegriffen werden, ist auch nicht leicht zu beantworten. Das, was in Berlin passiert ist, hat den Anschein, dass es geplant war. Das Auflehnen gegen staatliche Behörden kennzeichnet Jugendkulturen schon immer. Diesmal geschieht es eben mit Böllern. Die wichtigere Frage ist für mich, wie wir das in der Gesellschaft diskutieren.

Inwieweit sind Überlegungen zu Ghettoisierung und Bildungsdefiziten hilfreich?

Natürlich sind beengte Wohnverhältnisse, geringere Bildungschancen und schlechte Zukunftsaussichten Risikofaktoren für höhere Gewaltraten. Insofern muss man sich genau ansehen, was Integration eigentlich bedeutet und nicht einfach nur bestimmte Bevölkerungsgruppen stigmatisieren. Mit Stigmatisierung lösen wir kein Gewaltproblem, sondern erzeugen es mit.

Welche Rolle spielt bei diesen Angriffen die Tatsache, dass Silvester war - also vermutlich Alkohol konsumiert wurde und Böller zur Verfügung standen?

Wir wissen aus der Forschung über die Dynamiken solcher Angriffe, dass besondere Ereignisse ein höheres Gewaltrisiko bergen. Dazu gehören Fußballspiele, aber auch die Silvesternacht. Es kommen viele Menschen zusammen, häufig Männer, oft ist Alkohol im Spiel und damit steigt die Gefahr für Gewalt. Es gibt Kipppunkte, wo das in Aggressivität umschlägt, die Risiko- und Gefahreneinschätzungen verändern sich. Solche Gewaltdynamiken lassen sich nicht völlig aus der Welt schaffen. Hinzu kommt, dass Gewalt unseren Untersuchungen zufolge oft als Interaktionseffekt entsteht, gerade mit Vertretern staatlicher Gewalt. Letztlich hängt auch vieles davon ab, wie Polizei und Rettungskräfte mit diesen Situationen umgehen.

Was hätten Feuerwehrleute, Rettungsdienste und Polizisten denn anders machen können?

Dass zu Silvester die größte Anzahl von Einsätzen gefahren wird, wissen wir. Das haben Rettungskräfte auch auf dem Schirm. Wichtig ist, sich darauf einzustellen, dass mehr los sein wird, dass es auch zu Konflikten kommen kann und dass es dabei auch zu Gewalt kommen kann.

Sie vermitteln Deeskalationstechniken an Einsatzkräfte, was können die tun, wenn sie bei einem Einsatz auf eine gewalttätige Situation treffen?

Wenn die Gewalt schon da ist, hilft nur eins: raus aus der Situation. Weil das nicht der Job ist, für den Rettungskräfte ausgebildet sind. Bei Gewalt hilft auch keine Deeskalation mehr. Das macht nur dann Sinn, wenn man mit Menschen zu tun hat, die vielleicht in einer Ausnahmesituation, aber noch zugänglich sind. Wenn schon die Fäuste oder Böller fliegen, muss man sich um den Selbstschutz kümmern und sehen, dass man wegkommt. Wenn man nicht wegkommt, muss man sich selbst verteidigen. Da sind wir dann im Bereich von Notwehr unterwegs. Rettungskräfte haben meist ein gutes Gespür dafür, wie die Situation gebaut ist und ob es Sinn macht, noch empathisch einzuwirken. Oder ob man die Polizei dazu rufen sollte.

Eine andere Möglichkeit ist natürlich Prävention. Was kann helfen, damit Gewalt weniger als Möglichkeit erscheint?

Aus der Forschung und Sozialarbeit wissen wir, dass es Sinn macht, mit gewaltaffinen Menschen und Gruppierungen gezielt in Kontakt zu treten. Natürlich müssen diejenigen, die Straftaten begehen, dafür bestraft werden. Aber langfristig ist aus unserer Erfahrung wichtig, zu wissen, wie diese Menschen und Gruppen ticken und sich darum zu bemühen, für Polizei und Rettungskräfte eine größere Akzeptanz zu erreichen. Wenn die merken, ich habe es hier mit einem Polizisten zu tun und kann mit dem eigentlich ganz cool reden, dann bekommen sie einen anderen Zugang. So kann man Vorurteile ab- und ein besseres Verständnis füreinander aufbauen.

Mit Swen Körner sprach Solveig Bach

Quelle: ntv.de

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen