Person der Woche Joe Biden ist in dieser Krise ein Segen
16.04.2024, 08:05 Uhr Artikel anhören
Er ist alt, angeschlagen und innenpolitisch unter Druck. In der Weltpolitik agiert der US-Präsident trotzdem super souverän und behutsam. Seiner Geheimdiplomatie ist es zu verdanken, dass der Iran-Israel-Konflikt nicht eskaliert. Die Motive dafür liegen tief in seiner privaten Biografie.
Joe Biden wird als tattriger Opa verlacht. Donald Trump attackiert ihn täglich mit allerlei Niedertracht. Im US-Wahlkampf steht er innenpolitisch unter Dauerfeuer, seine Umfragewerte sind dürftig. Doch weltpolitisch agiert der US-Präsident mit einer verblüffend staatsmännischen Mischung aus Souveränität und Behutsamkeit, die an John F. Kennedy erinnert.
Es ist seinem persönlichen, energischen Einsatz zu verdanken, dass der Iran-Israel-Konflikt nicht weiter eskaliert. Er bremst den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und drängt Israel zu einer besonnenen Reaktion. Er hält zugleich die Mullahs in Teheran erstaunlich im Schach und eröffnet mit Saudi-Arabien eine neue Ordnungsperspektive für den Nahen Osten.
Joe Biden verfolgt dabei eine Mischung aus militärischer Stärke mit Entschlossenheit und ausgleichender Diplomatie. Pentagon-Analysten sprechen von einer "Carrot and Stick"-Strategie, die am ehesten mit "Zuckerbrot und Peitsche" zu übersetzen ist. So hat Joe Biden entschieden, der iranischen Bedrohung direkt militärisch zu antworten, indem man Israel nicht nur mit Waffen, Technik und Aufklärung hilft, sondern mit eigenem Militär aktiv wird - etwa bei der Bekämpfung der irantreuen Huthis und dem Abfangen von Raketen. Das Weiße Haus hat Teheran ein direktes Eingreifen der USA angedroht und damit offensichtlich Wirkung erzielt. Über diplomatische Kanäle soll angeblich ein "Enthauptungsschlag" in den Raum gestellt worden sein.
"Du hast einen Sieg, nimm den Sieg"
Den israelischen Partner wiederum lässt Biden demonstrativ als Sieger dastehen. Die Abwehr der iranischen Attacke sei ein "unglaublicher Erfolg". Israel gewinne gerade in seiner arabischen Nachbarschaft Alliierte, die bereit seien, dem Land zu helfen. Biden empfahl Netanjahu dringend, jetzt schlau auf einen Vergeltungsschlag gegen Iran zu verzichten. "Du hast einen Sieg, nimm den Sieg", soll er zum israelischen Regierungschef gesagt haben.
Biden hat so den Ausbruch eines großen Krieges verhindert. Der befürchtete Flächenbrand im Nahen Osten bleibt - zumindest für den Moment - aus.
Hinter den Kulissen ist Biden ein zweiter, kaum registrierter Erfolg gelungen. Sein Team arbeitet seit Monaten an einem größeren Friedensplan unter Einbeziehung Saudi-Arabiens, Ägyptens, Jordaniens und der Emirate. Die Gespräche sind weit gediehen und sollen auch bei der Beendigung des Gaza-Konflikts eine wichtige Rolle spielen, um den Einfluss Irans bei den Palästinensern zurückzudrängen. Das könnte dann auch für Israel größere Sicherheit bedeuten.
Machtpolitisch richtig ausgeschlafen
Die "Carrot and Stick"-Strategie in der Tradition von Kennedys Lösung der Kuba-Krise verfolgt Biden auch im geostrategischen Konflikt mit China. Auch dort hat die US-Regierung selbstbewusst allerlei Waffen auf den Tisch gelegt, von Wirtschaftssanktionen über die verstärkte Militärpräsenz im südchinesischen Meer bis zur Formierung einer neuen Anti-China-Allianz in Südostasien. Zugleich öffnet Biden den Gesprächskanal mit Peking mit den vor wenigen Tagen neu begonnenen Telefongesprächen mit Xi. Auch hier scheint die akute Kriegsgefahr rund um Taiwan erst einmal gebändigt.
Außenpolitisch beweist der amerikanische Präsident, dass er alles andere als alters- und führungsschwach agiert. Donald Trumps Schimpfwort vom "Sleepy Joe" zum Trotz entpuppt sich Biden keineswegs als schläfrig, sondern als machtpolitisch richtig ausgeschlafen. Das Besondere dabei ist, dass er es mit leiser Integrität schafft.
Auch beim Überfallkrieg Russlands hat Biden mit weltpolitischer Entschiedenheit reagiert. Die gewaltige Militärhilfe der USA ist es letztlich, die der Ukraine das Wunder ermöglicht hat, die größte Panzerarmee der Welt aufzuhalten. Während Deutschland lange zauderte, hatte Biden Waffen, Milliarden und metergenaue Satellitenbilder nach Kiew geschickt, und das, obwohl der Donbass doch 8500 Kilometer von Washington entfernt liegt und viele in Amerika sich lieber aus der Ukraine heraushalten würden. Vom ersten Moment an versammelte Biden die westliche Staatengemeinschaft aktiv zu einer Anti-Russland-Allianz. Er ist der Taktgeber einer orchestrierten Diplomatie und Sanktionspolitik. Unter Biden ist die NATO um Finnland und Schweden gewachsen und hat sich wieder zusammengefunden, wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
In der Schule wurde Biden geschmäht
Aus historischer Perspektive betreibt Washington unter Biden eine systematische Containment-Politik aggressiver Despotien. Die Eindämmung erfolgt durch militärisches Stärkezeigen, aber eben auch durch klugen Soft-Power-Einsatz. Für Europa ist Biden ein Glücksfall, weil er überzeugter Atlantiker und Multilateralist ist, er denkt europäisch und glaubt an das regelbasierte Miteinander der Staatengemeinschaft. Er wird damit zum Sicherheitsgaranten europäischer Ideale. Ohne die USA und ohne Joe Biden hätte der Ukrainekrieg womöglich Europa insgesamt entgleisen lassen.
Die Fähigkeit, große Krisen behutsam und stark zu überstehen, ist Joe Biden in sein persönliches Leben eingraviert. Schmach überwinden musste Biden schon als stotterndes Kind eines Arbeitslosen. In der Schule schmähten sie ihn als "Behinderten-Joe". Er lernte sich zu behaupten, ohne Wut oder Rache zuzulassen. Später raste 1972 ein mit Maiskolben beladener Lastwagen in den Chevrolet-Kombi seiner Familie. Seine Frau Neilia und seine einjährige Tochter Naomi starben. Biden musste seinen ersten Senatoren-Amtseid als junger Witwer ableisten. Seine Welt lag in Scherben, er dachte an Selbstmord. Biden entwickelte eine Bewältigungsstrategie in der Katastrophe, legte sich Stift und Block neben sein Bett und gab jedem Tag eine Note zwischen eins und zehn, um kleine Fortschritte zu registrieren, die ihm dann wiederum Hoffnung machten. Er lernte es, großen Krisen eine Politik der kleinen Schritte entgegenzusetzen.
Im Februar 1988 dann erlitt er während des Präsidentschaftswahlkampfs im Hotelzimmer einen Hirnschlag. Seine Überlebenschance war so gering, dass für den gläubigen Katholiken ein Priester herbeigerufen wurde. Der kam noch vor der Ehefrau ans vermeintliche Sterbebett und erteilte das letzte Sakrament. Eine Notoperation ließ ihn überleben, es folgten Monate in der Reha. Erst nach sieben Monaten konnte er wieder gehen. Das Leben habe ihm mehrfach "eine zweite Chance" gegeben, sagte Biden später. Biden fühlt sich seither als Spezialist für "zweite Chancen" - auch in politischen Zusammenhängen.

Joe und Jill Biden - 1977 heiratete der verwitwete Biden ein zweites Mal. Sie lernten sich bei einem Blind Date kennen, das Bidens Bruder arrangiert hatte.
(Foto: REUTERS)
2015 erlitt Biden die letzte Familientragödie. Eigentlich wollte er als Nachfolger von Barack Obama als Präsidentschaftskandidat antreten, doch dann erkrankte sein geliebter Sohn Beau im Alter von nur 46 Jahren an einem Gehirntumor und starb einen grausamen Krebstod. Sein anderer Sohn Hunter versank in Drogen- und Alkoholexzessen und produzierte serienweise Skandale.
Biden überstand alles schwer verwundet, aber mit großer Würde. Und er zog aus jeder Krise immer auch eine Lehre, wie sie zu überwinden ist. Das Politisch-Aggressive oder Arrogante ist Biden in den blutenden Wunden seines Lebens jedenfalls ausgewaschen worden. Er zeigt Züge einer seltenen, beinahe altmodischen Tugend der Demut. Das ist der wahre Grund, warum er in Konflikten die Ruhe bewahrt und lieber geduldig das Beste aus verzwickten Lagen machen will.
Quelle: ntv.de