Erster Grand Slam vor 20 Jahren Als Hannawald den Tournee-Mythos besiegte
06.01.2022, 12:54 Uhr
Die ersten drei Wettbewerbe haben bei der Vierschanzentournee schon viele Springer gewonnen, als Sven Hannawald Ende 2001 und Anfang 2002 dominiert. Am vierten Erfolg sind alle gescheitert - bis dem Deutschen vor einem Millionenpublikum auf RTL das perfekte Tournee-Finale gelingt.
Tom Bartels ging nicht aus dem Sattel wie 2014, als Mario Götze Deutschland in Rio zum Weltmeister schoss. "Er hat es geschafft, der Mythos der Vierschanzentournee ist besiegt", sagte der damalige RTL-Kommentator nur - und ließ Sven Hannawald im Auslauf der Paul-Außerleitner-Schanze von Bischofshofen erst einmal "in Ruhe" explodieren.
Der rhetorische Reporter-Kniff verfing. Die Bilder, wie Hannawald im Trötenlärm seinen historischen Skisprung-Grand-Slam abfeiert, sind auch heute, 20 Jahre später, unvergessen. Wie die Last von dem 63-Kilo-Leichtgewicht abfällt, wie "Hanni" die Freude über seinen Coup herausschreit. Wie DSV-Co-Trainer Wolfgang Steiert Sportdirektor Rudi Tusch um den Hals fällt und Bundestrainer Reinhard Heß sein Kapperl zieht. Ein kollektiver Gefühlsausbruch - an der Schanze und bei Millionen vor den Fernsehgeräten.
Der 6. Januar 2002 war in gewisser Weise ein Skisprung-Urknall. Hannawald gelang, was seit 1953 bei 49 Tourneen noch keiner geschafft hatte: kein Recknagel, kein Wirkola, kein Weißflog, kein Nykänen. Der damals 27-Jährige gewann alle vier Wettkämpfe der legendären deutsch-österreichischen Schanzenserie. Er bezwang den Mythos, wie Bartels im Moment des Big Bangs treffend festhielt.
Vier Jahre zuvor stoppte Hannawald Funakis Traum
49 Jahre hatte der Grand Slam als Ding der Unmöglichkeit gegolten, als unerreichbarer Skisprung-Olymp. Olaf Björnstad (Norwegen, 1953/54), Helmut Recknagel (DDR, 58/59), Max Bolkart (BRD, 59/60), Toralf Engan (Norwegen, 62/63), Björn Wirkola (Norwegen, 68/69), Yukio Kasaya (Japan, 71/72), Kazuyoshi Funaki (Japan, 97/98): Sie alle hatten die ersten drei Springen gewonnen. Sie alle (bis auf Kasaya, der zur Vorbereitung auf Olympia in Sapporo vom japanischen Verband abgezogen wurde) scheiterten beim Finale in Bischofshofen.
Sven Hannawald sprang sich im Winter 2001/02 in einen Rausch. Nach den Heimsiegen in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen gingen die Träumereien los - wenngleich mit Vorsicht. Denn die Auftaktspringen hatte auch Martin Schmitt 1998 gewonnen, nur um am Bergisel in Innsbruck abzustürzen. Hannawald aber legte an dem verflixten Teufelsbakken noch mal zu. Mit Schanzenrekord sprang er die Konkurrenz in Grund und Boden. In dieser Form schien der historische Viererpack nur noch Formsache.
Und doch: Wie schwer das Unterfangen war, hatte sich erst im Jahr 4 v. H. (vor Hannawald) gezeigt: Auch der Japaner Funaki dominierte 1997/98 die ersten drei Wettkämpfe. In Bischofshofen hielt der Sprungästhet dem Druck nicht mehr Stand, wurde sang- und klanglos Achter (Hannawald gewann vor Hans-Jörg Jäkle).
Kranjec und Hautamäki machen mächtig Druck
Diesen Druck spürte Anfang 2002 nun Hannawald. Und wie. Ganz Deutschland befand sich im Skisprung-Taumel, die Quoten bei RTL gingen durch die Decke. Hardcore-Fans wie Gelegenheitszuschauer - sie alle erwarteten von "Hanni" das, was doch eigentlich unmöglich war. "Ich mach' mein Zeug", trug der schmächtige Mann aus Hinterzarten in den TV-Interviews wie ein Mantra vor sich her. Ein simpler, sympathischer Satz, um der (medialen) Erwartungshaltung zu entfliehen.
Hannawald wollte locker wirken. Der Druck aber, der vor dem Tournee-Finale auf ihm lastete, war unmenschlich. Er sollte diese verflixten vier jetzt endlich klarmachen! Versagen verboten! Um Körner zu sparen, ließ der DSV-Adler regelmäßig die Qualifikation aus, musste im Wettkampf dafür im K.-o.-Duell stets gegen die Stärksten ran.
Wie Hannawald angesichts dieser Gemengelage auf der Paul-Außerleitner-Schanze "performte" - einzigartig. Gewiss: Die Anlage mit ihrem langen Schanzentisch lag dem geborenen Flieger, erst drei Jahre zuvor hatte er bei einem legendären WM-Teamspringen mit 137 Metern einen Rekord in den Salzburger Schnee geknallt (und mit Dieter Thoma, Martin Schmitt und Christof Duffner Gold geholt). Doch als wäre der Druck auf Hannawalds schmalen Schultern nicht schon groß genug gewesen, hauten der Slowene Robert Kranjec und der Finne Matti Hautamäki mit 134,5 respektive 134 Metern plötzlich mächtig welche raus.
"15 Uhr, 56 Minuten und 55 Sekunden"
Und Hannawald? Blieb cool, traf die Kante, flog, flog, flog und landete fast schon im Flachen - 139 Meter! Weil er in diesem Weitenbereich bloß eine Haferl-Landung setzen konnte und Punkte einbüßte, blieb es allerdings spannend. Hautamäki wollte den Party-Crasher spielen und den Tournee-Mythos intakt halten, legte im zweiten Durchgang mit 131,5 Metern erneut einen Bombensatz vor. Als letzter Springer rutschte Hannawald auf den Balken. Um "15 Uhr, 56 Minuten und 26 Sekunden", wie Tom Bartels der gebannten Nation verbal protokollierte, checkte er noch einmal seine Bindung. Dann fuhr er los.
Um "15 Uhr, 56 Minuten und 55 Sekunden" (Bartels) war es vollbracht. Hannawald hatte ein achtes Mal geliefert, unbeirrt sein Zeug gemacht. 131,5 Meter samt Telemark. Die Sache war durch. "Ich habe für den Jugendtraum des kleinen Sven alles gegeben, über viele Jahre, teilweise Jahrzehnte. Das hat am Ende gekostet", blickte Hannawald, der später einen Burnout erlitt, anlässlich seines 20-jährigen Grand-Slam-Jubiläums in einem Interview zurück. "Aber mir ist wichtiger, dass ich den Traum erfüllen konnte, und zwar, die Tournee zu gewinnen."
Sven Hannawald hat die Vierschanzentournee heute vor 20 Jahren nicht einfach nur gewonnen. Er hat sie entmythologisiert - und seit ein paar Jahren mit dem Polen Kamil Stoch und Ryoyu Kobayashi aus Japan sogar Gesellschaft im Club der Grand-Slam-Sieger.
Quelle: ntv.de