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"Kein Entkommen" für Fury Am Ende des Bluffs steht der größte Fight des Boxens

Tyson Fury steht für Spektakel. Nun muss er für ein neues sorgen.

Tyson Fury steht für Spektakel. Nun muss er für ein neues sorgen.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Nach monatelangen Verhandlungen steht der Kampf um die unumstrittene Weltmeisterschaft im Schwergewicht zwischen Tyson Fury und Oleksandr Usyk kurz vor dem Kollaps. Fury macht seinem Rivalen ein Angebot, das dieser eigentlich nur ablehnen kann. Usyk aber checkt den "Bluff" und stimmt überraschend zu. So kommt es am 29. April im Wembley-Stadion von London zu einem der größten Sport-Events des Jahres: der Krönung des Königs der Könige im Boxen.

Es hatte fast so etwas wie Live-Ticker-Charakter. Übers Wochenende verfolgte die Boxwelt gebannt, wie Tyson Fury und Oleksandr Usyk ihren heiß ersehnten Kampf um die uneingeschränkte Herrschaft im Schwergewicht in den sozialen Medien zu Ende verhandelten. Los ging das Schauspiel am Freitagmittag. In einer Instagram-Story meldete sich Fury nach längerer Funkstille zu Wort. "Usyk! Du und dein Team, ihr seid 30 Prozent wert. Nimm es an oder lass es!", sagte der Brite. Sofern sein Rivale nicht sofort zusage, werde er für jeden Tag des Verplemperns ein Prozent "abziehen", tönte der Brite und setzte einen ihm typisch-vulgären Full Stop. "Die Uhr tickt, ihr Pussies."

Die meisten Experten der Szene waren sich nach dem 50-Sekunden-Clip sicher, dass der erste Kampf um alle relevanten WM-Titel im Schwergewicht seit mehr als 20 Jahren damit vom Tisch sei. Es erschien schlicht abwegig, dass Usyk einem solch faulen Angebot zustimmen würde. Einen 60:40-Split der Einnahmen zugunsten Furys, okay, den hätten Kenner der Szene bei einem Kampf in England noch für vertretbar gehalten. Fury, so das Argument, sei auf der Insel schließlich der Publikumsmagnet, der die Kasse klingeln lässt.

Ein abwegiges Angebot?

Dass der "Gypsy King" nur einen WM-Gürtel (den des Verbandes WBC) einbringe, Usyk dagegen drei (WBA, WBO, IBF), spiele eine untergeordnete Rolle. Aber eine Verteilung von 70 zu 30 und damit praktisch die finanzielle Degradierung Usyks zu einem gewöhnlichen WM-Herausforderer? Abwegig. Zumal Usyk-Promoter Alexander Krassyuk für seinen Protegé zunächst die Hälfte des Geldkuchens gefordert hatte, später mit einem 60:40-Angebot - 60 Prozent für den Sieger - an Fury abgeprallt war.

Oleksandr Usyk aber ist in vielerlei Hinsicht kein gewöhnlicher Preiskämpfer. Noch am Freitagabend nahm der 36-Jährige den Fehdehandschuh auf. Via Twitter und Instagram lancierte Usyk eine Antwort, die die monetären Gesetzmäßigkeiten des Boxgeschäfts aushebelte - zu seinen Ungunsten. "Hey, gieriger Bauch. Ich akzeptierte dein Angebot. 70:30-Split für einen Kampf in Wembley am 29. April", sagte der Ukrainer, der mit nacktem Oberkörper, schwarzer Mütze und ungelenkem Englisch fast wie ein klischeehafter Bond-Bösewicht rüberkam. Fury müsse lediglich versprechen, "sofort nach dem Kampf" eine Million Pfund an die Menschen in der Ukraine zu spenden. "Deal?"

Usyks Antwort ploppte um kurz nach 21 Uhr im Netz auf, im übertragenen Sinne war es kurz vor 12. Der Weltverband WBA hatte den 9. März zum Deadline-Day ausgerufen. Sollte es bis dahin keine Einigung geben, werde man Usyk verpflichten, seinen WBA-Titel gegen den Nummer-1-Herausforderer Daniel Dubois zu verteidigen, hatten die Funktionäre der Drei-Lettern-Organisation angekündigt. Um kurz vor Mitternacht, nur Stunden nach dem Usyk-Video, berichtete ESPN, die Lager der Weltmeister hätten der WBA Meldung gemacht: Man habe sich auf ein Duell am 29. April geeinigt.

Am Samstagmorgen bestätigte Fury die frohe Botschaft: "Guten Morgen, Welt. Heute ist mein erster Trainingstag für den Kampf gegen Usyk", ließ der 34-Jährige während eines Strandlaufs wissen. Ein sechswöchiges Trainingscamp reiche ihm völlig aus, um sich vorzubereiten (was nicht wenige Kenner anzweifeln). Er werde am 29. April diesem "sneaky Motherfucker" seinen Willen aufzwingen.

"Kein Entkommen" für Fury

Nun, das Wort mit M bedarf keiner Übersetzung, das Wörtchen "sneaky" schon eher. Hinterhältig, heimtückisch, raffiniert, heimlichtuerisch, kriecherisch, stehen zur Auswahl. Wie auch immer. Vielleicht aber nervt es Fury tatsächlich, dass Usyk seine eigentlich unannehmbare Offerte ohne mit der Wimper zu zucken angenommen hat. Vielleicht wollte er den Fight gegen den schnellen und unangenehm zu boxenden Konkurrenz-Weltmeister wirklich nicht.

Usyk habe Furys "Bluff" durchschaut, urteilte Eddie Hearn bei iFL TV: "Jetzt ist es an Tyson Fury, kein Entkommen." Der Promoter von Furys inländischem Rivalen Anthony Joshua spielte auf den geplatzten Briten-Blockbuster zwischen Fury und seinem Schützling im Vorjahr an. Damals hatte Fury die aus mehreren Gründen komplizierten Verhandlungen seines Unterhändlers Frank Warren und der Joshua-Seite mit ständig neuen Ultimaten torpediert - bis zum Abbruch der Gespräche. Usyk ließ nicht mit sich spielen. Er wollte den Kampf unbedingt, konterte Furys Art der Pistole-auf-die-Brust-Verhandlungsführung direkt und eiskalt. Ein Zug, mit dem der Engländer womöglich nicht gerechnet hatte.

Anfang des Jahres noch hatte Fury vs. Uysk wie ein simpel einzutütender Deal erschienen. Nahezu wöchentlich beteuerten die Lager der ungeschlagenen Weltmeister, allen voran die Fury-Händler, das Duell sei quasi fix und werde schon bald verkündet. Einzig auf Datum und Schauplatz müsse man sich noch verständigen. Ein Frühjahrs-Fight in Saudi-Arabien drängte sich auf. Die Potentaten aus Nahost stellten einmal mehr ein Multimillionen-Dollar-Spektakel in Aussicht. Große Hürden wie rivalisierende TV-Sender oder Promoter-Fehden pflasterten den Weg gen Wüste nicht. Fury vs. Usyk machte einfach nur Sinn.

Saudis winken bei Fury ab

Aber wie gesagt: so schien es. Denn irgendwann fing das Ganze an zu haken. Anders als zuletzt verhandelten die Boxer nicht über die Verteilung der Einnahmen, sondern direkt mit den Saudis über eine Art Antrittsgage für den Fight. Während sich Usyk laut britischen Medien mit den Geldgebern offenbar schnell auf eine garantierte Börse verständigte, gerieten die Gespräche zwischen dem Fury-Lager und den Arabern ins Stocken. Das zunächst anvisierte Kampfdatum 4. März war bald nicht mehr zu halten. Anfang Februar verkündete Fury-Promoter Frank Warren dennoch, das Duell werde "zu 100 Prozent" am 29. April stattfinden, der Deal in "sechs bis sieben Tagen" festgezurrt. Allein: Die Tage strichen ins Land und nichts tat sich.

Stattdessen flatterte der Boxwelt Mitte Februar eine unerwartete Nachricht ins Haus: Die nahöstlichen Strppenzieher hätten abgewunken, das Wembley-Stadion in London sei nunmehr der Favorit auf die Austragung des "Undisputed Showdown". Dass selbst die Saudis ihren opulenten Dollar-Koffer wieder zumachten und darauf verzichteten, das prestigeträchtige Mega-Event zu veranstalten -, ein Indiz, welch aberwitzige Forderungen Fury gestellt haben muss.

Für die Boxfans war der Saudi-K.-o. freilich eine gute Nachricht. Ein ausverkauftes Wembley-Stadion macht mehr her als ein trockenes Wüsten-Event. Für die Promoter wurde das Ganze dagegen ein zähes Stück. Denn: Der Geldkuchen ist auf der Insel um ein Vielfaches kleiner, wenngleich noch immer gewaltig. Zwischen 80 und 90 Millionen Dollar dürfte der Gipfeltreff der Schwergewichte einspielen. Furys Börse wird dank des 70-Prozent-Deals beträchtlich. Auch wenn Hearn genüsslich anmerkte, dass der Brite nicht den Batzen bekomme, den er sich ursprünglich für einen Clash in Saudi-Arabien erhofft habe.

Usyk gewinnt Respekt, Fury verliert

In der Boxwelt, gerade auch in England, hat sich Usyk mit seiner überraschenden Zusage enorm viel Respekt erworben. Die öffentliche (teils auch die veröffentlichte) Meinung ist sich relativ einig: Dass der Kampf um alle Titel kommt, ist einzig Usyk zu verdanken. Fury, der gerne vollmundig betont, wie egal ihm doch Geld sei, steht als gieriger Nimmersatt da. Als einer, der den Hals nicht vollkriegt.

Usyk wiederum galt schon vor seinem Social-Media-Coup als Paradebeispiel des "Road Warriors", ein Kämpfer, der sich nie scheut, in des Gegners Hinterhof anzutreten. Seinen ersten WM-Titel gewann er 2016 in Gdansk gegen den Polen Krzysztof Glowacki, zwei Jahre später triumphierte er in Moskau beim Finale der World Boxing Super Series, in dem er den Russen Murat Gassiev deklassierte. Auch zum Schwergewichts-Weltmeister krönte sich Usyk auf dem Terrain seines Kontrahenten. 2021 entthronte der Edeltechniker in London den physisch klar überlegenen Joshua. 60.000 Briten schauten im Tottenham-Stadion entgeistert zu, wie der Gast ihren Ring-Darling über zwölf Runden ausboxte, ihrem "AJ" die Titel von WBA, WBO und IBF abknöpfte.

Nun steht für Usyk das nächste Auswärtsspiel an - und mit Fury wartet der Endgegner im Schwergewicht. Der 2,06-Meter-Riese überragt die ukrainische "Katze" um 16 Zentimeter, hat wesentlich längere Arme, ist rund 20 Kilogramm schwerer. Usyk kratzt das nicht: Er boxe seit er 15 ist und immer hätten irgendwelche Leute gesagt, dies und das könne er nicht schaffen, sagte der Weltmeister in einem Interview mit Sky-Reporter Gary Neville. Die Unkenrufer seien stets Leute, die das, was er sich vornehme, selbst nicht schaffen könnten.

"Nur weil jemand größer ist als ich oder längere Arme hat, heißt das nicht, dass er stärker ist." Für den Ukrainer spricht dessen überragende Beinarbeit, die exzellente Technik, Kondition, Tempo und die für den Gegner unbequeme Rechtsauslage. Die Krux: praktisch all das bringt auch Fury mit - neben seinen massigen Vorteilen.

Man muss im Box-Geschichtsbuch (von der absurden "Ära" des russischen Riesen Nikolay Valuev) schon lange zurückblättern, um auf ein vergleichbares "David-gegen-Goliath"-Duell zu stoßen, bei dem der Titel auf dem Spiel stand. 1934 forderte der 1,82 Meter große und 84 Kilogramm schwere Halbschwergewichts-Weltmeister Tommy Loughran den Champion Primo Carnera. Der Italiener kam mit seinen zwei Metern Körperlänge im Amerika der 1930er Jahre wie ein Außerirdischer daher.

Carnera brachte 38 Kilo mehr auf die Waage als der Amerikaner. Boxen konnte der Riese nicht besonders gut, dafür clinchte er den technisch hochbegabten Loughran mit all seiner Masse 15 Runden lang müde und siegte nach Punkten. Er habe seinen Körper extra mit Knoblauch eingerieben, um sich Carnera vom Leib zu halten, sagte Loughran hinterher: "Woher konnte ich wissen, dass der Tölpel Knoblauch mochte?" Ob Tyson Fury Knoblauch mag? Wahrscheinlich schon. Oleksandr Usyk wird auch das egal sein. Er ist bereit.

Quelle: ntv.de

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