"Das macht der tagtäglich!" DHB-Aufsteiger schreibt kein Handball-Märchen
19.01.2022, 15:26 Uhr
Sechsmal durfte Julian Köster gegen Polen jubeln.
(Foto: picture alliance/dpa)
Julian Köster kommt als Zweitliga-Spieler zur Europameisterschaft und plötzlich lastet eine große Verantwortung auf den Schultern des Rückraumspielers: Im richtungsweisenden Vorrundenfinale muss er der geschwächten Mannschaft helfen. Und der 21-Jährige liefert beeindruckend.
Viele, viele Namen schwirren von Bratislava aus durch die Sportwelt: Neun Spieler der deutschen Handball-Nationalmannschaft wurden bis wenige Stunden vor dem richtungsweisenden EM-Spiel gegen Polen positiv getestet und fallen möglicherweise für den Rest des eng getakteten Turniers aus. Die Europameister Kai Häfner, Julius Kühn und Andreas Wolff fehlen, mit Till Klimpke verabschiedet sich auch der zweite Torwart und nach dem Aus von Marcel Schiller, Timo Kastening und Lukas Mertens herrscht auch auf den Außenpositionen blanke Not. Kurzfristig machten sich mit Paul Drux, Fabian Wiede, Sebastian Firnhaber, Torwart Johannes Bitter und Rune Dahmke fünf Spieler auf nach Bratislava, um diese zu lindern.
Wenige Stunden nach ihrer Ankunft stehen Bitter und Dahmke in der Startformation - einfach, weil sie die einzigen verfügbaren Spieler auf ihrer Position sind. Der 39-jährige Bitter, der sein erstes Länderspiel am 4. Januar 2002 bestritten hatte, wird später vom "wohl Verrücktesten" sprechen, das er "im Handball jemals gemacht" habe. Mit Wiede und Drux standen Bundestrainer Alfred Gislason kurzfristig zwei international mit Titeln, Medaillen und Erfahrung ausgestattete Rückraumspieler zur Verfügung. Das Spiel, das die so schlimm durchgeschüttelte Mannschaft begeisternd mit 30:23 gewinnt, hätte ihre Geschichte werden können. Doch es kam anders.
EM-Held musste nicht mal die Jacke ausziehen
Denn statt der Berliner Rückraumstars machten zwei den Schritt ins Licht, von denen im Vorfeld wenig die Rede war: Christoph Steinert hatte zuvor in zwei Spielen schon achtmal getroffen, der Erlanger ersetzte im rechten Rückraum Kai Häfner und Marcel Schiller als etatmäßiger Siebenmeterschütze. Kunststück: Das Geburtstagskind vom Dienstag kompensierte gleich beide Ausfälle und traf neunmal. Weil zwischendurch auch Djibril M'Bengue mal aufs Feld durfte, musste sich der hochkarätige Nachrücker Fabian Wiede nicht einmal die Trainingsjacke ausziehen.
Und dann war da vor allem Julian Köster, der "Player Of The Match". Der 21-Jährige ist hauptberuflich für den VfL Gummersbach in der zweiten Liga unterwegs, im Kader von Bundestrainer Alfred Gislason ist der Rechtshänder vor dem Turnier hinter Julius Kühn und Sebastian Heymann die Nummer drei auf Halblinks und vielleicht so etwas wie die Geheimwaffe. Eine nennenswerte Rolle spielte der Schlaks in den ersten beiden Spielen nicht, im dritten drehte er auf. Sechs Tore erzielte er mit sechs Versuchen, mal per Durchbruch, mal über die hohe polnische Abwehr. Immer gefährlich auf die Abwehr drauf, immer drin.
Es war vor allem in der zweiten Halbzeit ein Fest zuzuschauen, wie der Turnierdebütant das polnische Bollwerk sezierte. Ein Mittel gegen Köster fand der stärkste Vorrundengegner des deutschen Teams nie. "Es freut mich unfassbar, dass es so läuft", sagte er nach der starken Vorstellung in Abwehr und Angriff schlicht. "Das war ein Auf und Ab der Gefühle. Morgens die Nachricht von weiteren positiven Fällen und abends dann ein Sieg gegen Polen mit überragender Teamleistung. Mit Glücksgefühlen geht man nun aus dem Tag raus."
Die Polen waren überrascht, viele Handballfans waren überrascht, der Bundestrainer wusste, was ihn erwartete: "Er hat mich nicht überrascht. Er macht das tagtäglich." Auch Handball-Legende Stefan Kretzschmar hatte Köster im Gespräch mit ntv.de als einen der Spieler auf dem Zettel, die "bei der EM ein Zeichen setzen können." Köster sei "ein total interessanter Spieler, der unheimlich viel Talent hat, gerade im offensiven Verteidigen."
"Es war klar, dass er uns helfen musste"
Gegen die Polen, im wichtigsten Spiel dieser Vorrunde, lud Gislason früh die Last im Angriff auf die schmalen Schultern des jungen Mannes. Kühn konnte nicht, Heymann lieferte nicht, also sprang Köster ein. Wie selbstverständlich. "Es war klar, dass er uns in dieser Situation helfen musste, das hat er überragend gemacht", sagte Kapitän Johannes Golla der ARD. "Er ist neben seinen Würfen sehr gut im eins-gegen-eins, sieht seine Mitspieler immer und ist in der Abwehr sehr clever", meinte Golla. Die Handball-Experten Gislason, Kretzschmar und Golla finden, dass Köster das geliefert hat, was sie ihm alle zugetraut hatten. Es ist ein großes Kompliment, ein Ritterschlag. Kein Märchen, sondern "nur" eine Topleistung.
Der Fluch des guten Spiels: Auf einmal gibt es eine Erwartungshaltung, die man zuvor noch unter Verweis auf den unerfahrenen Kader abmoderiert hatte. Die Mannschaft geht den Weg mit: "Wir wollen alles gewinnen", diktierte Christoph Steinert den Journalisten in die Blöcke. Eine Einschränkung schob Deutschlands bester Torschütze bei diesem Turnier nicht hinterher. Nur eines wollte Steinert noch loswerden: "Ihn möchte ich unbedingt loben", sagte der beste Torschütze des Abends über den Zweitliga-Crack vom VfL Gummersbach: "Was Julian gezeigt hat, war absoluter Wahnsinn."
Für Julian Köster, den vielleicht besten Zweitligaspieler bei der Europameisterschaft, ging es in den letzten beiden Ligaspielen vor der EM-Pause gegen den HSC Coburg und TuS Ferndorf - nun warten am Donnerstag und Freitag die Handball-Großmächte Spanien und Norwegen. Wahrscheinlich wird dann eine andere Geschichte geschrieben als die Fortsetzung des Köster-Nicht-Märchens. Bei allem Respekt für das deutsche Unterhaus und die Polen, aber nun kommen andere Kaliber, gespickt mit Weltklassespielern. Julius Kühn könnte ins Team zurückkehren, auch der massive und erfahrene Drux ist immer eine Option im linken Rückraum. "Die Spanier gehören immer zu den Favoriten. Sie spielen einen unangenehmen Handball. Es wird schwierig", sagte Köster der ARD. Gut möglich, dass die Spanier, die selbst mit zahlreichen Debütanten das Turnier bestreiten, dieses Kompliment zähneknirschend zurückgeben.
Quelle: ntv.de