Kasai fehlt im Weltcup-Team Das Leistungsprinzip stoppt Flugsaurier Kasai
13.11.2020, 12:04 Uhr
Für Noriaki Kasai ist erst mal kein Platz in Japans Weltcup-Team.
(Foto: imago images/East News)
Noriaki Kasai will auch im fünften Jahrzehnt hintereinander Skispringer sein, sein Verband bremst die unglaubliche Karriere des 48-Jährigen aber erstmal aus. Das Ende muss das aber noch nicht sein.
Es hatte sich ja lange angedeutet, aber jetzt, da es passiert, erschrickt man doch: Noriaki Kasai, Japans Skispringer-Legende, fehlt in Japans Aufgebot für den Weltcup-Auftakt am kommenden Wochenende im polnischen Wisla. Kasai ist 48 Jahre alt, eine der größten, außergewöhnlichsten Karriere scheint nach 569 Einzelstarts im Weltcup, drei Olympia- und acht WM-Medaillen, 17 Weltcup-Siegen und zahlreichen Rekorden nach 32 Jahren wirklich zu Ende zu gehen.
Als Kasai in seine erste Weltcup-Saison startete, stand noch die Berliner Mauer, Deutschlands Fußballer waren noch nicht in Rom Weltmeister geworden, Helmut Kohl befand sich noch in der ersten Hälfte seiner Kanzlerschaft und im Skispringen hielt man die Ski im Flug noch möglichst parallel. Seit 1988 war Kasai auf den Schanzen der Welt aktiv. Dieter Thoma war Deutschlands Skisprungstar, Jens Weißflog flog noch für die untergehende DDR. Thoma, drei Jahre älter als sein einstiger Widersacher Kasai, springt schon seit 20 Jahren nicht mehr. Kasai ist ein "Flugsaurier" aus einer anderen Zeit.
Unglaubliche Anpassungsfähigkeit
Die große Leistung Kasais in einer sich stetig neu erfindenden Sportart liegt aber nicht in seinen Siegen oder seiner Beharrlichkeit. Es ist die Anpassungsfähigkeit, die den großen Japaner mehr als 30 Jahre einen verdienten Platz im Weltcup gesichert hat. Den Schritt vom Parallelstil zum V-Stil hat er geschafft, er sprang vorne mit, als die Athleten immer fragiler wurden und er hielt mit, als eine Regeländerung dem Wetthungern ein Ende setzte und die Kraft wieder eine größere Rolle zu spielen begann. Er passte sich an den gebogenen Bindungsstab an, der die Ski beim Sprung in einer Position enger am Körper hält und natürlich auch an die Keile zwischen Ski und Wade, die in der Absprungphase eine große Rolle spielen. Alle diese Entwicklungen haben Verlierer produziert, Kasai aber war immer noch da. Bis zuletzt. "Skispringen gibt mir ein großartiges Gefühl", hat er in den Medien des Internationalen Olympischen Komitees einmal gesagt. "Es ist fabelhaft und etwas, das ich mit Worten kaum beschreiben kann."
Die Götterdämmerung hatte aber freilich schon lange eingesetzt: Seit er 1992 Skiflugweltmeister geworden war, hatte Kasai bis zum Winter 2019 an 28 Vierschanzentourneen teilgenommen, nur einmal hatte er wegen einer selbst auferlegten Pause gefehlt: Das war 1994/95. 2019 schließlich war er dann aber nicht mehr für die aufmerksamkeitsstärksten Veranstaltungen des Skisprungkalenders nominiert worden. Andere, viel Jüngere waren längst innerhalb des Teams vorbeigezogen, für den Routinier war schlicht kein Platz mehr im Aufgebot. Zum ersten Mal seit 25 Jahren verbrachte er die Zeit um Silvester, in der die Elite des Sports den Vierschanzentourneesieger ausspringt, nicht in Europa, sondern zu Hause - und feierte die Geburt seines Sohnes. Ein Grund, es gut sein zu lassen, war das damals noch nicht. "Jetzt, wo mein Sohn auf der Welt ist, will ich wieder hart arbeiten", verkündete der "Flugsaurier" und trainierte schon wenige Tage nach der Geburt wieder auf der Schanze.
Japanische Mannschaft hat ihm so viel zu verdanken
An seiner eigenen Verzichtbarkeit im Team hatte Kasai ja selbst an einer anderen Front tatkräftig mitgearbeitet: Lange war Kasai nach dem Abschied seines Mannschaftskollegen Kazuyoshi Funaki weitestgehend als japanischer Einzelkämpfer im Weltcup unterwegs, inzwischen stellt die japanische Mannschaft mit Dominator Ryoyu Kobayashi den Superstar der Szene. Auch wegen Kasai, der als Sportdirektor des Tsuchiya-Teams, der Springer-Mannschaft eines Immobilien-Multis, den Nachwuchs selbst auf Weltniveau hievte. Kobayashi betonte stets, er habe "ihm so viel zu verdanken." Kasai sah zu, wie sich sieben Japaner unter den besten 34 Springern in der Gesamtwertung der Tournee platzierten. Kasai ist für das japanische Skispringen längst verzichtbar, wenn auch nur auf den Schanzen des Weltcups.
2014 holte er mit 41 Jahren noch olympisches Silber auf der Großschanze und Bronze mit der Mannschaft, im selben Jahr verbesserte er am 29. November mit seinem letzten Weltcup-Sieg in Kuusamo den eigenen Altersrekord: 42 Jahre und 176 Tage war er bei dem Wettbewerb alt, den Sieg teilte er sich mit dem Schweizer Simon Ammann, damals vergleichsweise zarte 33 Jahre alt. Zehn Jahre war da der letzte Weltcup-Sieg her, neun schwache Jahre folgten - und auf einmal sprang der Oldie noch einmal für ein paar Jahre vorne mit.
Im Frühjahr 2015 flog er noch zur persönlichen Bestweite von 240,5 Metern. Im Skifliegen, wo Kasai mit seinem einzigartigen Fluggefühl die schwindende Athletik viel besser kompensieren kann, als auf den kleineren Schanzen, landete er sogar 2017 noch zweimal auf dem Treppchen. Im Skispringen aber, wo die kraftvollen Artisten dominieren, war der große alte Mann des Skispringens aber längst nicht mehr konkurrenzfähig, im Weltcupwinter 2019/20 sammelte er keinen einzigen Weltcup-Punkt.
Und so wird es immer wahrscheinlicher, dass die großen Rekorde aus 32 Jahren nicht mehr ausgebaut werden. Für 569 Starts in Weltcup-Einzelspringen war Kasai erst im Mai vom Guinness Buch der Rekorde geehrt worden, seine acht Olympia- und 13 WM-Teilnahmen werden wohl so schnell nicht angegriffen. Die "Zeit" hat einst ausgerechnet, dass er mehr als 95 Minuten beim Segeln zusehen könnte, würde man alle seine Weltcup-Sprünge hintereinander schneiden. Offen bleibt, ob Kasai es noch schaffen wird, in fünf Jahrzehnten in Folge in einem Weltcup zu starten. Klar ist: Als fliegendes Maskottchen wird Kasai nicht zum Team stoßen wollen.
"Ich bin so fit"

Der Routinier und sein Nachfolger: Kasai hat eine enge Bindung zu Ryoyu Kobayashi.
(Foto: imago/GEPA pictures)
Denn eigentlich hatte er ja trotz der bitteren letzten Saison noch Großes vor, der Gedanke an ein Karriereende ist noch ein Tabu: "Die nächste Saison wird mein Jahr. Ich werde weiterkämpfen mit meinen neunten Olympischen Spielen 2022 in Peking als Ziel", hatte er im April dem Portal hochi.news versprochen. Normalerweise starte er mit sechs bis sieben Kilo zusätzlichem Gewicht im Mai in das erste Trainingslager: "Aber dieses Jahr ist das anders. Ich bin bereits so fit, dass das Trainingslager sofort beginnen könnte."
Aber Training hin, Ziele her: Den großen Sprung, die Explosion beim Absprung, den dynamischen Übergang in den Flug, den hat Kasai schon lange nicht mehr im Repertoire. Zurückgetreten ist er aber noch nicht und vielleicht schafft er es sogar noch einmal ins Team. Im Skifliegen stehen die Höhepunkte erst am Ende der Saison - und anders als die Kraft für den Absprung hat er die Fähigkeiten für einen außergewöhnlichen Flug nie verloren.
Dass es nicht einfacher werden würde für ihn, war ihm, der bei seinen neunten Olympischen Spielen 49 Jahre alt wäre, aber schon längst klar: "Wenn es gut läuft, starte ich im Continentalcup. Egal, wo ich hingeschickt werde, möchte ich ohne zu murren meine Leistung bringen." Auf die große Bühne, das ist jetzt klar, werden sie ihn erst mal nicht schicken.
Quelle: ntv.de