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Dreßens "Höllen"-Ritt ins Glück Das bittere Ende des deutschen Streif-Helden

In gesunden Tagen war Thomas Dreßen einer der allerbesten Abfahrer der Welt.

In gesunden Tagen war Thomas Dreßen einer der allerbesten Abfahrer der Welt.

(Foto: IMAGO/GEPA pictures)

Thomas Dreßen macht Schluss. Doch bevor er seine Rennski in den Keller stellt, rast er noch einmal knapp zwei Minuten durch die Hölle. Er hört auf, wo er vor genau sechs Jahren zur Legende geworden war. Im deutschen Team hinterlässt er eine riesige Lücke.

Sie ist die mächtigste Abfahrt der Welt. Die brutalste. Die legendärste. Knapp zwei Minuten ein erbitterter Kampf gegen blankes Eis, gegen Mausefalle, Karussell, Steilhang, Hausbergkante, Traverse, Zielschuss - Pistenabschnitte aus der alpinen Hölle. Gefälle bis zu 80 Prozent, Sprünge über 30, 60, 70 Meter ins gefühlte Nichts. Die Streif in Kitzbühel hat zahlreiche Karrieren beendet und große Helden geschaffen. Einer von ihnen: Thomas Dreßen. 24 Jahre war er alt, als ihm Österreich zu Füßen lag. So ist das eben mit Streif-Helden. Mittlerweile ist er 30, schwer gezeichnet, schwer verzweifelt. An diesem Samstag rast er ein letztes Mal durch die "Hölle", danach ist Schluss.

"Es ist einfach so, dass es körperlich nicht möglich ist, ganz vorne mitzufahren", sagte Dreßen am Donnerstag, an jenem Tag, als er die Ski-Szene mit seinem Rücktritt überraschte. "Die Entscheidung ist mir natürlich nicht leicht gefallen." Auf der Rückreise von Wengen, wo er nach der Lauberhorn-Abfahrt am vergangenen Samstag wieder mal kaum auszuhaltende Schmerzen verspürt und mit den Tränen gekämpft hatte, begann sie zu reifen.

Eine Abfahrt im alpinen Ski-Weltcup ist immer eine kurze Reise am absoluten Limit, ein wilder Ritt. Eine Extrembelastung, physisch wie psychisch. Dreßen war einer, der sie perfekt beherrschte. So gut wie kein anderer Deutscher vor ihm. Mit fünf Weltcup-Siegen ist er der erfolgreichste Speedfahrer, den der DSV je hervorgebracht hat. Er reißt eine gewaltige Lücke in das kriselnde Team. "Da hast du schon einen, der nach dem Sternenhimmel greifen kann, und dann so etwas", sagte Alpinchef Wolfgang Maier dem Sportinformationsdienst und schob hinterher: "Dabei bräuchten wir einen Leader wie den Tom." Cheftrainer Christian Schwaiger musste mit den Tränen kämpfen, als Dreßen seinen Rücktritt verkündete. Der Ur-Bayer war eine Urgewalt auf zwei Brettern, ein großes Versprechen.

"Was ich für eine Lust hätte, da zu fahren ..."

Am vergangenen Sonntag wurde die Entscheidung dann in Stein gemeißelt. Am Tag zuvor war Dreßen in Wengen Letzter geworden. Bis zum Kernen-S hatte er sich voll reingehauen, es langte nicht mehr. Der Rest der mächtigen Strecke wurde ein quälendes Ausfahren. "Beschissen" gehe es ihm, sagte er und kämpfte mit den Tränen. "Man haut sich voll rein und ich probiere wirklich alles, aber es ist bitter, wenn halt einfach der Körper nicht mehr so mitspielt", sagte er schwer atmend. "Es tut halt einfach weh, wenn man die Stimmung und die Strecke sieht. Was ich für eine Lust hätte, da zu fahren ...". Am Sonntag saß er alleine auf der Couch, seine Frau brachte die Tochter ins Bett, und er schaute sich seinen größten Moment, sein wohl bestes Rennen, noch einmal an.

Es ist der 20. Januar 2018, gegen 12.30 Uhr. Dreßen steht mit der Nummer 19 im Starthaus, er blickt dem eisigen "Inferno" entgegen, so hatte Streif-Rekordsieger Didier Cuche einmal über die raubeinige Piste geurteilt, und rast los. Begleitet von einem "Geh'ma Tom, auf geht's." Trotz einer starken Saison ist er kein Favorit auf den Sieg. Nach zehn Sekunden fliegt er 38 Meter weit, beschleunigt auf 113 km/h. Er ist auf voller Attacke unterwegs. Nach 31 Sekunden kommt er zur ersten Schlüsselstelle, die Ausfahrt des Steilhangs. Im Jahr zuvor war er dort gestürzt, mit 14 Hundertstel Rückstand fährt er in den einzigen entspannten Streckenabschnitt ein - und kommt mit 24 Hundertstel Vorsprung heraus. Nach über einer Minute Fahrzeit liegt er fast eine halbe Sekunde vorne, im Zielbereich bricht der Jubel los. Die Österreicher lieben die Streif, sie lieben Helden. Und am liebsten sind ihnen Heldengeschichten auf der legendären Piste. Ein solche bahnt sich an. Beat Feuz, der Führende, er springt auf.

Der Rücktritt geht Thomas Dreßen emotional sehr nah.

Der Rücktritt geht Thomas Dreßen emotional sehr nah.

(Foto: dpa)

Wie auf Schienen, ohne jeden Wackler, rast Dreßen durch die nächsten Abschnitte, baut minimal aus. Es ist erst sein zweiter Auftritt in Kitzbühel. Beim ersten hatte er das Ziel nicht erreicht. Es ist ein zu bestaunender Rodeoritt ohne Angst und Respekt. Dann die Hausbergkante, ein Sprung ins gefühlte Nichts. Ein Sprung, der große Karrieren schmerzhaft beendet hat. Dreßens Vorsprung schmilzt, nur noch eine Zehntel. Dann ab durch die Traverse, ein kaum zu ertragendes Eis-Geratter unter den Skiern, schließlich der steile Zielhang, 18 Hundertstel liegt er wieder vorne. Das Publikum johlt und tobt. Dreßen fliegt dem Ziel entgegen, Erster. Er kann es nicht fassen, Kitzbühel kann es nicht fassen. Er reißt die Arme hoch, schreit und schreit und schreit.

"Es geht sich aussssss! Das gibt's ja gar nicht."

ARD-Kommentator Bernd Schmelzer ist fassungslos, die Kollegen des ORF auch. Am Start hatten sie Dreßen noch alles Gute gewünscht, in Erinnerung gerufen, dass er in Beaver Creek ("auch keine Kinderschaukel") schon aufs Podium gefahren war, und dann, als der Deutsche in den Zielhang einbiegt, sind sie baff. "Woas is' jetzt?", fragt Ex-Rennfahrer und Experte Armin Assinger. Und Sekunden später schreit Oliver Polzer: "Es geht sich aussssss! Das gibt's ja gar nicht." Dann ist er sprachlos. In der Moderatoren-Cam ist zu sehen, wie er nach Worten ringt, stumm da sitzt und versucht, den "Wahnsinn" zu begreifen. Wie alle. Wie Dreßen selbst.

Auch sechs Jahre später, am Sonntagabend des 14. Januar, versucht der 30-Jährige zu begreifen, was war und was noch ist. Die bittere Erkenntnis: "So, wie du da gefahren bist, das geht nicht mehr, das funktioniert nicht mehr." Hinzu kommen die jüngeren Konkurrenten wie Marco Odermatt und Cyprian Sarrazin, die das Level für den Sport noch einmal nach oben geschraubt haben. Technisch, aber auch von der Furchtlosigkeit. Sarrazin nennen sie wegen seines verrückten Fahrstils nicht ohne Grund "Psycho".

"Was gibt es Würdevolleres?"

Ihm sei immer klar gewesen, bekräftigte Dreßen, so nüchtern wie möglich bei der Medienrunde zu seinem Abschied, dass er nicht einfach verschwinden wolle, sondern "dass ich bei einem Rennen meine letzte Fahrt machen will". Er sagte das in einem Hotel in Kirchberg. An jenem Ort, an dem er vor sechs Jahren aufgebrochen war, um Geschichte zu schreiben. Und für seine letzte Fahrt wählt er die große Bühne, seine Bühne. "Was gibt es Würdevolleres, als die Karriere in Kitzbühel zu beenden? Ich werde alles mitnehmen, was ich kann."

Aber die oberste Maxime lautet: "Ich werd' schon schau'n, dass ich da sicher runterkomme." Ein letztes Halleluja soll es nicht geben. Er möchte schließlich die Zeit als Vater künftig genießen, seine Kinder aktiv erziehen und mit ihnen noch Sport treiben. Auch deswegen macht er ja Schluss, weil er nicht als physisches Wrack enden möchte.

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Es ist eine besondere Tragik, dass er im besten Alter für einen Speedfahrer aufhören muss. Doch da war eben dieser heftige Sturz im November 2018 in Beaver Creek, zehn Monate nach dem Husarenritt in Kitzbühel, dessen Folgen sich erst peu à peu bemerkbar machten. Die Saison danach verlief noch überragend, dann aber ließen das deutsche Speed-Ass die massiven Beschwerden mit dem kaputten rechten Knie nicht mehr los. Von März 2020 an bestritt der Bayer mit Ausnahme der WM-Abfahrt 2021 (18.) für zweieinhalb Jahre kein einziges Rennen. Der Körper stellte ihm ein Stoppschild hin. Bei einer Knorpel-Operation Ende Februar 2021 wurde ihm von den Ärzten gesagt, "dass ich mich darauf einstellen soll, dass jetzt nicht zehn Jahre plus geht".

An diesem Samstag geht diese so vielversprechende Karriere viel zu früh zu Ende. Er sei mit sich "im Reinen", betonte der nun bald ehemalige Weltklasseläufer allerdings tapfer. Ein "Nachgurken" im Weltcup sei nicht sein Anspruch. Für diesen Samstag macht er eine Ausnahme. Durch die "Hölle" geht's für Dreßen ins Glück.

Quelle: ntv.de

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