
Zwei Legenden, ein Nachname: Johannes Thingnes und Tarjei Bö.
(Foto: IMAGO/MAXPPP)
Nur ein WM-Titel fehlt Johannes Thingnes Bö noch, dann hat niemand mehr Gold als er. Es sind unfassbare Zahlen, die sich in der Karriere des norwegischen Biathleten stapeln. Der für einige Größte aller Zeiten und sein Bruder gehen nun ihre letzte WM an.
Diese Weltmeisterschaft der Biathleten im schweizerischen Lenzerheide startet mit etwas, was es womöglich nicht noch einmal geben wird: Ein Bö nimmt am Wettkampf teil - und steht am Ende nicht auf dem Podest. Das hat es 2023 nicht gegeben, das hat es 2024 nicht gegeben. In jedem Wettbewerb räumten Johannes Thingnes Bö oder Tarjei Bö eine Medaille ab. Oder sie belegten gleich zwei Plätze des Podiums. Oder waren in der Staffel für Norwegen gemeinsam erfolgreich. Der Auftakt in der Mixed-Staffel bereitet darauf vor, wie Bö-leer die Podien dieser Biathlon-Welt zukünftig sein werden.
Dann nämlich, wenn die Brüder nach dem 23. März ihre Saison wie alle beenden - aber anders als die meisten anderen nicht mehr in den Weltcup zurückkehren werden. Die beiden beenden gemeinsam ihre eindrucksvollen Karrieren. Der Massenstart beim Heimspiel am Holmenkollen in Oslo wird ihr letzter Weltcup sein. Danach: Plötzlich Freizeit, Zeit für die Familie. "Das Ende eines Traumes rückt näher. Ein Traum, der erweckt wurde, als mein Bruder Tarjei 2006 Weltmeister wurde", sagte Johannes Thingnes Bö. "Ich war 13 Jahre alt, und mein Traum war, das Gleiche zu schaffen wie du, Tarjei. 2012 waren wir dann plötzlich gemeinsam im Nationalteam, was für eine Reise war das seitdem! Danke, dass du so ein beispielhaftes Vorbild für mich und jeden anderen warst, ich bin extrem glücklich, dass du Teil dieses Abschnitts meines Lebens warst!"
Keine zehrenden Trainings mehr, keine Schinderei, kein Winter mit gepackten Koffern, kein Verzicht auf die Liebsten, Tausende Kilometer im Auto, Flugzeug, Bus, quer durch Europa oder gar durch die Welt. Stattdessen zu Hause sein, bei den Frauen, den Kindern. "Es nimmt dir und den Menschen um dich herum sehr viel, die Nummer 1 in deinem Sport zu bleiben." So begründete Johannes Thingnes Bö unter Tränen sein Karriereende während des Weltcups Anfang Januar in Oberhof - ein Schock für die Szene.
"Will nicht mehr für Olympia arbeiten"
"Ich weiß, dass ich es schaffen könnte, noch öfter zu gewinnen, weil ich eine unglaubliche Gabe habe. Ich muss fast nicht trainieren, um die Nummer eins zu sein", sagte Bö, als er ganz allein auf der Bühne saß, bei einer Pressekonferenz, zu der er kurzfristig geladen hatte: "Aber es reicht nicht, um noch ein Jahr weiterzumachen."
Mit 31 Jahren wird Schluss sein, ein Jahr vor den Olympischen Spielen. Wenige Wochen nach ihm kündigte auch sein fünf Jahre älterer Bruder an, dass er abtritt. "Ich wusste schon vor der Saison, dass es meine letzte sein wird. Mein Gefühl im Körper war, jetzt ist es genug, ich will nicht mehr für Olympia arbeiten, denn das ist sehr harte Arbeit."
Und wofür wäre es? Für die nächste Medaille. Klar, ein möglicher Olympiasieg geht den Norwegern so durch die Lappen. Aber Tarjei ist dreimaliger Olympia-Goldmedaillengewinner, Johannes hat sogar fünf goldene Plaketten zu Hause. Arnd Peiffer, Sprint-Olympiasieger von 2018, kann die Entscheidung nachvollziehen, sagte er nach Johannes Thingnes Bös Rücktrittserklärung im Podcast "Das Biathlon-Doppelzimmer", den er mit Ex-Teamkollege Erik Lesser betreibt: "Er kann noch einen Olympiasieg holen, noch ein paar WM-Medaillen gewinnen. Aber er hat schon alles erreicht. Er könnte die Anzahl nach oben schrauben, aber das würde keinen Riesenunterschied machen. Aber ob er jetzt ein Jahr mehr mit den kleinen Kindern zu Hause ist, das macht doch einen großen Unterschied." Johannes Thingnes Bö hat mit Frau Hedda den vierjährigen Gustav und die drei Jahre jüngere Sofia. Deren Cousin Aaron wird in diesem Jahr drei Jahre alt.
Hedda Daehli Bö sagte dem norwegischen TV2: "Wir haben dieses Leben hier viele Jahre lang gelebt, und wir leben eigentlich zwei verschiedene Leben. Er lebt auf die eine Art, mit vielen Reisen und allem, was dazugehört. Als Familie haben wir einfach so gelebt, wobei er die meiste Zeit unterwegs war und seinen Kopf beim Biathlon behalten musste." Seit zehn Jahren sind sie und Johannes Thingnes Bö ein Paar, sie kennt ihn nur als Weltstar, "zehn Jahre lang" habe sie "am Rand gestanden und zugeschaut". Sie bekennt, selbst nostalgisch und traurig zu werden, aber: "Jeder, der einen Partner hat, der viel unterwegs ist, kann erkennen, dass es wirklich schön sein wird, sowohl einen Partner als auch einen Freund zu Hause zu haben. Darauf freue ich mich schon."
Der Beste aller Zeiten?
Für die Biathlon-Fans wird es dagegen ein schmerzhafter Abschied werden. Für die Norweger, weil gleich zwei Superstars abtreten. Auch wenn der Pool an norwegischen Biathleten schier unerschöpflich ist, da gehen zwei mit massig Erfahrung in jeder erdenklichen Rennsituation. Und auch den Deutschen wird etwas fehlen. Das ein oder andere launige Interview, von Tarjei sogar auf Deutsch. Die Werbung eines Weltcup-Großsponsors, die in den Werbepausen über die TV-Bildschirme flackert und die so merkwürdig rührend wie befremdlich ist, nehmen die beiden auch schon mal selbst auf die Schippe. Über Johannes Thingnes Bö sagte Lesser: "Von außen ist das der Beste der Welt, aber er hat es nicht nötig, irgendwelche Spielchen zu machen. Natürlich macht er aufgrund seines Erfolges ab und zu ein paar hochnäsige Spitzen oder man könnte ihm etwas als Arroganz auslegen. Aber er ist total auf dem Boden geblieben."
Bei dieser Weltmeisterschaft geht also eine Ära zu Ende. Seit 2009 ist Tarjei Bö im Weltcup dabei, sein jüngerer Bruder folgte 2013. Schon zuvor war geraunt worden: Ja, Tarjei Bö ist gut, und er gewinnt andauernd, aber dann wartet mal ab, was sein kleiner Bruder drauf hat. Die Wahrsager, sie sollten recht behalten. Bislang 119 Weltcupsiege hat Johannes Thingnes Bö zu Buche stehen. Fünfmal hat er im Gesamtweltcup triumphiert. Bislang 20 WM-Titel gehören zur Sammlung, sein Bruder gewann bis jetzt elfmal WM-Gold. In den kommenden Tagen könnten weitere Medaillen hinzukommen. Es gibt mit dem Sprint, der Verfolgung, dem Einzelrennen, dem Massenstart, der Staffel und der Single-Mixed-Staffel noch sechs Titel zu vergeben.
Dass es gleich zum Auftakt scheiterte, lag weniger an Johannes Thingnes Bö, der als Schlussläufer nochmal alles probierte und Justus Strelow, der für Deutschland Bronze nach Hause lief, bis auf knapp drei Sekunden auf die Pelle rückte. Vielmehr hatte Startläuferin Ingrid Landmark Tandrevold als Startläuferin gepatzt, achtmal danebengeschossen und musste zweimal in die Strafrunde. Zu viel, um noch aufs Podest zu sprinten. Der WM-Rekord, er hält erst einmal.
Bö macht es wie Björndalen
Denn ja, ein 21. WM-Titel wäre ein Rekord. Johannes Thingnes Bö würde seinen Landsmann Ole Einar Björndalen überholen, der wie er ebenfalls 20 WM-Titel sein Eigen nennen kann. Um das zu schaffen, hat Bö sich besonders auf die WM vorbereitet. "Ich bin in die Sauna gegangen, habe mir etwas Gutes zum Essen zubereitet und eigentlich alles richtig gemacht. Ich habe dort viereinhalb Tage als Ole Einar gelebt", witzelte er bei TV2.
"Wenn alles normal läuft, holt er fünf Medaillen", prophezeit Ex-Biathlet Rösch bei RTL/ntv. "Drei davon in Gold." Jede Medaille wird die Frage weiter anheizen, ob Johannes Thingnes Bö der GOAT ist, der beste Biathlet aller Zeiten. Geht es nach Rösch, ist die Sache klar, wie er bei Eurosport sagte, wo er als Experte arbeitet: "Johannes Thingnes Bö ist für mich der GOAT im Biathlon, der Größte, den wir in diesem Sport je hatten. Seine Rekorde und Leistungen schätze ich persönlich noch höher ein als zum Beispiel jene von Martin Fourcade oder Ole Einar Björndalen." Lesser will sich nicht festlegen, denn er sagte über die drei: "Jeder ist für sich einzigartig." Allerdings ist die Bewunderung des zweifachen Weltmeisters für seinen ehemaligen Konkurrenten groß: "Abartig, was er über die vergangenen zehn Jahre geleistet hat", sagte er im Podcast.
Teamkollege Sturla Holm Laegreid sagte: "Sein Niveau war nicht von dieser Welt. Er hatte alles, um der Allerbeste zu sein und ist es auch geworden." Er war völlig aufgelöst, weinte wie ein Schlosshund, als er vom Rücktritt erfuhr. Und weinte wieder, als auch der ältere Bö zurücktrat. Er war gerade zwölf Jahre jung, als Tarjei Bö im Weltcup durchstartete, seine ganze Karriere ist mitgeprägt von den beiden.
Gerade hat er beide abgehängt, ist der Führende im Gesamtweltcup. Der 27-Jährige, der auch schon 6 WM-Titel sein Eigen nennen kann, könnte derjenige sein, der im so bärenstarken norwegischen Männer-Team das Erbe antritt. Bis es so weit ist, bestreiten die drei aber zusammen diese Weltmeisterschaft. Womöglich ist er hautnah dabei, wenn der Gold-Rekord geknackt wird. Vielleicht fließen dann wieder Tränen. Bei Sturla Holm Laegreid, bei Tarjei Bö und bei Johannes Thingnes Bö.
Quelle: ntv.de