Vingegaard dominiert die Tour Der furiose Aufstieg der dänischen "Killerwespe"
15.07.2022, 19:33 Uhr
Bester Mann aktuell: Jonas Vingegaard.
(Foto: IMAGO/Pro Shots)
Jonas Vingegaard wehrt in Alpe d'Huez alle Attacken von Tadej Pogacar auf das Gelbe Trikot ab. Mit einem überragenden Team im Rücken hat der Däne beste Chancen, den Dominator zu stürzen. Doch der Slowene steckt natürlich nicht auf und könnte von seiner Erfahrung profitieren.
Jonas Vingegaard unterhielt sich angeregt mit Edelhelfer Wout van Aert, zwei Meter weiter verspürte Tadej Pogacar keinen Redebedarf. Der Herausforderer in Gelb und der von ihm souverän in Schach gehaltene Titelverteidiger hatten sich am Tag nach der spektakulären Ankunft in Alpe d'Huez erst einmal nichts mehr zu sagen. Vingegaards sportliches Statement bei den Kletter-Showdowns in den Alpen hatte gesessen. Kein Grund für den schmächtigen Dänen, um abzuheben. "Ich muss all meinen Teamkollegen danken - sie haben einen unglaublichen Job gemacht. Das Team, das ich habe, ist wahrscheinlich das beste hier bei der Tour", schwärmte der 25-Jährige: "Das haben wir heute und gestern und auch in der ersten Woche gesehen."
In den ersten Tagen hatten die "Killerwespen", so wird die Equipe aus den Niederlanden wegen ihrer bis vor kurzem noch gelb-schwarzen Trikot genannt, indes auf andere, auf negative Weise von sich reden gemacht. So schimpft etwa Deutschlands Radstar Maximilian Schachmann über die aggressive Fahrweise des Superstar-Teams, das gleich mehrere Stürze selbst oder mit mitausgelöst hatte. "Jumbo muss sich mal ein bisschen einkriegen. Weil die alle wieder wie die Kaputten auf dem letzten Zentimeter fahren, es aber nicht können und sich dann an der Straßenkante aufhängen." Dies sei eine Gefährdung aller Fahrer. "Und das ist unnötig." Doch nach den ersten unruhigen Tagen besannen sich die "Killerwespen" und dominieren seither das Feld.
Die Vorstellungen von Jumbo-Visma und auch die von Vingegaard sind beeindruckend. Am ersten Tag in Gelb trugen ihn seine extrem starken Helfer um Allrounder van Aert den Großteil der 21 berühmtesten Kehren des Radsports in Alpe d'Huez hinauf - Rivale Pogacar war parallel fast auf sich alleine gestellt. Und als Pogacar im Finale dann das Duell Eins-gegen-Eins suchte, war Vingegaard im Stile eines großen Champions zur Stelle. Zuvor hatte Vingegaard am Mittwoch bei der Bergankunft am Col du Granon von einem kapitalen Einbruch Pogacars profitiert, dem Slowenen 2:51 Minuten abgenommen und dadurch das Maillot jaune krachend entrissen. Vor der Hitzeschlacht am Wochenende im Zentralmassiv, in der das Duell um Gelb kurzzeitig ein wenig abkühlen sollte, hat der Vorjahreszweite solide 2:22 Minuten Puffer im Gesamtklassement.
Der Mann aus der Fischfabrik
Bereits im vergangenen Jahr hatte Vingegaard angedeutet, dass mit ihm zu rechnen ist. Nicht nur wegen seines völlig überraschenden Platzes auf dem Podest. Beim Anstieg zum mythischen Mont Ventoux hatte der Däne den damals in einer eigenen Liga fahrenden Pogacar vorübergehend abgehängt, ihm auf dem Gipfel 38 Sekunden abgenommen. Diese auf der Abfahrt aber wieder eingebüßt. In diesem Jahr war er als Doppelspitze mit Primoz Roglic an den Start gegangen, doch nachdem der Slowene in der ersten Woche gestürzt war und geschwächelt hatte, setzte das Team voll auf den Dänen, der bis 2018 halbtags noch in einer Fischfabrik gearbeitet hatte. Im durch die Olsenbande bekannten Dorf Hanstholm.
Die Härte in den Bergen und im Kampf gegen die Uhr hat Vingegaard sich in langen Fahrten in seiner Heimat an der Nordsee geholt. Hier ist das Surferparadies Klitmöller, das kalte Hawaii, nicht weit. Eine ordentliche Brise gibt es praktisch rund um die Uhr und aus allen Richtungen. Dass Vingegaard ein gewaltiges Talent ist, das vor allem in den Bergen glänzen kann, zeigte sich schon früh. Als 19-Jähriger begann er seine Karriere beim drittklassigen Coloquick-Team, der Talentschmiede des dänischen Radsports. "Ich mag die Berge einfach. Da kann ich mich zeigen", sagte Vingegaard schon damals.
Keine drei Jahre später, 2019, unterschrieb er bei Jumbo-Visma, gewann in Polen sein erstes Profirennen. Und war in Folge auch schon in unschöne und verdächtigende Spekulationen verwickelt. Sein Team setzt auf ein Präparat, das die Fettverbrennung beschleunigen soll. Ketone. Verboten ist das nicht. Anti-Doping-Agenturen blicken allerdings skeptisch auf die Einnahme. Ebenso wie Experten auf die Leistungen von Vingegaard. Bei seinem Sprint zum Gipfel des Mont Ventoux fuhr er im vergangenen Jahr die letzten sechs arg schweren Kilometer erheblich schneller als jeder andere Rennfahrer vor ihm. Damit auch als die Vertreter der Hochdopingära, wie die "Süddeutsche Zeitung" damals schrieb.
Der beste Kletterer?
"Er ist der vielleicht beste Kletterer im Feld", sagte Pogacar erst vor wenigen Tagen über seinen größten Rivalen. Der Respekt vor Vingegaard ist groß. Schon in der ersten Tourwoche hatte der Däne dem Titelverteidiger immer wieder Paroli geboten. "Meine Beine sind sehr gut, ich bin in Topform", sagte Vingegaard nach den ersten schweren Etappen. Während andere Favoriten wie Primoz Roglic oder Geraint Thomas bereits zurückfielen, klemmte sich der 25-Jährige meistens an Pogacars Hinterrad - und in den Alpen beeindruckend dran vorbei.
Zurücklehnen wird und darf sich Vingegaard aber nicht. Auch wenn nach den starken Vorstellungen in den Alpen so einiges für einen neuen Champion auf der Champs-Elysees spricht. Nach der "Entspannung" auf den weniger anspruchsvollen Teilstücken wird es in der kommenden Woche bei den nächsten Showdowns in den Pyrenäen heiß hergehen. Denn geschlagen gibt sich Pogacar, der seinen dritten Tour-Sieg in Folge anstrebt, noch lange nicht: "Ich habe mich schon wieder viel besser gefühlt. Das gibt mir einen Schub und eine Menge an Selbstvertrauen", so der 23-Jährige. Jonas Vingegaard und sein starkes Team werden auf der Hut sein.
Quelle: ntv.de, tno/sid/dpa