Mikaelians historische WM-Chance Deutschlands vergessener Weltklasse-Boxer
03.11.2023, 21:23 Uhr
Noel Mikaelian kämpft in der Nacht zu Sonntag um den WM-Titel.
(Foto: imago/ZUMA Press)
Noel Mikaelian gehört zu den wenigen deutschen Boxern, die internationale Klasse haben. In der Nacht auf Sonntag kann er das beweisen: In Miami kämpft er um den WM-Titel. Dass dies hierzulande kaum einer mitbekommt, liegt an Mikaelians Lebensweg.
"Only in America." Das Credo des berüchtigten US-Promoters Don King mit der Starkstromfrisur trifft in gewisser Weise auch auf Noel Mikaelian zu. Der deutsche Preisboxer kam vor vier Jahren zu dem Schluss, dass sein sportliches Lebensziel nur oder zumindest am ehesten von Amerika aus erreichbar sei. 2019 wanderte Mikaelian nach Miami aus. Hinter ihm lag damals eine "schwere Depression", wie Mikaelian im Interview mit ntv.de/sport.de erzählt. Ende 2018 hatte er in Chicago im Viertelfinale der "World Boxing Super Series" eine wegweisende Niederlage gegen den Letten Mairis Briedis erlitten.
"Da bin ich den Punktrichtern und all dem, was im Hintergrund geschieht, zum Opfer gefallen", erinnert sich der 33-Jährige an den 10. November vor fünf Jahren. Obwohl Mikaelian seinen Gegner im Griff hatte und mindestens acht der zwölf Runden klar beherrschte, erklärte ihn die Jury am Ring einstimmig zum Verlierer. Statt um den Einzug ins Finale der Box-Champions-League zu kämpfen, um die prestigeträchtige Muhammad-Ali-Trophy und zehn Millionen Dollar Preisgeld, stand Mikaelian mit leeren Händen da - und fiel in ein Loch. "Ich hatte einfach keine Lust mehr zu boxen, keine Lust auf nichts mehr. Ich war mental sehr verwirrt", blickt Mikaelian zurück. Enttäuscht war der Boxer vor allem von seinen Promotern Kalle und Nisse Sauerland, unter deren Banner er seit Jahren ins Seilquadrat kletterte.
Ein Richterspruch mit der Kraft, eine Karriere zu zerstören
In Chicago schien es, als sollte Mikaelian nicht gewinnen. Briedis - in Deutschland bekannt, weil er einst Marco Huck veritabel vermöbelte und Mahmoud Charr wie einen Baum fällte - stand (und steht) ebenfalls bei Sauerland (heute "Wasserman Boxing") unter Vertrag. Der Favorit nahm das Punktrichter-Geschenk dankend an und gewann später das Turnier um die Cruisergewichts-Krone - während Mikaelian aus seinem psychischen Krater klettern musste. Das Urteil von Chicago stieß vielen Fans und Experten sauer auf. Es war einer dieser Richtersprüche: ungerecht und mit der bösen Kraft, eine Karriere zu zerstören. Für Mikaelian nicht die erste Erfahrung dieser Art.
Schon 2017 hatte er in Polen gegen den langjährigen WBC-Weltmeister Krzysztof Wlodarczyk ähnlich kontrovers den Kürzeren gezogen. Eine "Home Town Decision" sei die 2:1-Wertung für den polnischen "Diablo" gewesen, unkten Beobachter. Mikaelian verpasste die Teilnahme an der ersten Auflage der World Boxing Super Series, obendrein einen WM-Kampf beim Verband IBF. Ein erster Karriereknick. Die unverdiente Niederlage gegen Briedis haute noch härter rein. Mikaelian lag am Boden.
"Aber ich habe mich aufgerappelt", betont er. Mikaelian nahm sein Schicksal in die eigene Hand. Der Boxprofi kündigte seinen Vertrag, "weil ich einfach kein Vertrauen mehr in den Sauerland-Stall hatte, mich von meinem Promoter nicht richtig vertreten gefühlt habe." Mikaelian wollte seiner Karriere Herr werden und nicht mehr auf "Zwischenmänner" angewiesen sein. "Im Boxen wird man oft als einfaches Produkt gesehen, das man benutzen und vermarkten kann - ein Fleischprodukt sozusagen", kritisiert Mikaelian das Preiskampf-Geschäft: "Viele Manager und Promoter sind alteingesessen. In den Neunzigern war das vielleicht so. Heute ist das anders. Der Sportler ist der Boss, es ist seine Karriere, er treibt den Marktwerkt." Was bringe schon ein Manager, "der einen Kontakt hat, dir Honig um den Mund schmiert, ein gutes Wort für dich einlegt, um Kohle zu kassieren. Das kann man auch selbst für sich machen."
Die richtigen Schlüsse gezogen
Dabei hatte Mikaelians Laufbahn lange Zeit "typisch deutsch" ausgesehen. Schon als Jugendlicher lernte er die hiesige Szene kennen. Sein Stiefvater Koren Gevor boxte für den Hamburger Universum-Stall gegen Arthur Abraham und Felix Sturm um WM-Titel. Mikaelian gab 2011 sein Debüt als Profi, unterschrieb bald bei Sauerland und machte im Rahmenprogramm von Abraham und Huck von sich reden. Für den Cruisergewichtler ging es langsam, aber stetig bergauf. Doch wann immer ein Gipfel erreicht schien - in Polen, in Chicago -, klauten die Punktrichter Mikaelian die Sauerstoff-Flasche. In den mental zehrenden Monaten nach dem Briedis-Kampf reifte in ihm der Entschluss, sein Leben zu ändern. Die Koffer zu packen.
"Ich brauchte einen Tapetenwechsel", erinnert sich Mikaelian. Er flog nach Florida - und nicht mehr zurück. Seither ist der Boxer sein eigener Chef, managt sich zusammen mit Bruder Abel selbst. "Ich habe für mich die Lehre gezogen, dass man im Boxen leider viel mehr außerhalb des Rings vorarbeiten muss. Kontaktpflege mit den Verbänden, wer vertritt mich?", erläutert Mikaelian. Wenn man keinen "Inner Circle" habe, dem man vertrauen könne, sei es schwer. "Ich habe mich in den letzten Jahren deshalb viel um das Business außerhalb gekümmert, sodass ich, wenn ich im Ring performe, keine Zweifel habe, dass mein Team mit Punktrichtern, Management oder Promotion die falschen Fäden zieht."
Rasch in Fahrt kam Mikaelians Karriere in den USA allerdings nicht. Zum einen entschleunigte die Corona-Pandemie den Sport. Zum anderen war es für den Defensivspezialisten schwer, gute Kämpfe zu bekommen. Seine starke Leistung gegen den hoch eingeschätzten Briedis hatte Mikaelian das Leben im Cruisergewicht paradoxerweise ziemlich schwer gemacht. "Ich bin eher ein Fall von High-Risk/Low-Reward. Weil ich nicht gerade berühmt bin, bin ich finanziell für viele Gegner nicht so lukrativ, aber boxerisch halt sehr gefährlich", beschreibt Mikaelian sein Dilemma. Anders ausgedrückt: In der Gewichtsklasse bis 90,72 Kilogramm reißt sich keiner der Top-Leute um einen physisch kompakten, technisch versierten Konterboxer ohne großen Namen, der einen schlecht aussehen lässt.
"Jacks Sieg war überraschend, aber für mich interessant"
Immerhin: Mit Siegen über den Amerikaner Jesse Bryan (2020) und Yuri Kayembre Kalenga aus dem Kongo (2022) brachte sich Mikaelian beim Weltverband WBC in die Position des Nummer-1-Herausforderers. Um endlich einen WM-Kampf an Land zu ziehen, unterschrieb er Ende 2022 gar einen Vertrag bei Promoter-Legende Don King. Anfang des Jahres sollte es so weit sein - es kam anders.
Weltmeister Ilunga Makabu erhielt vom WBC eine "Sondergenehmigung" für ein profitables Duell mit dem Schweden Badou Jack in Saudi-Arabien. Mikaelian guckte in die Röhre, sah im Februar in Diriyya zu, wie Makabu seine WBC-Krone unerwartet durch Technischen K.o. verlor. Der Herausforderer im Wartestand nahm also den neuen Champion ins Visier. "Jacks Sieg war überraschend, aber für mich interessant, weil er von Skill Challenge Promotion vertreten wird, die finanziell sehr stark sind und jetzt sehr gute Boxevents in Saudi-Arabien aufziehen", erläutert Mikaelian.
Die "Purse Bid" (Versteigerung der Austragungsrechte, d.Red.) für ein Duell mit Jack sei dann aber dreimal verschoben worden. "Man hat mir Step-Aside-Money angeboten, wenn ich nicht gegen ihn boxe, was auch sehr lukrativ war. Aber ich wollte unbedingt um den Titel kämpfen, deswegen habe ich abgelehnt. Dann hat Jack den Titel niedergelegt, um etwas anderes zu machen", gibt der boxende Manager Einblick ins Geschäft. Der Weg schien frei für einen Kampf gegen Makabu um den nun vakanten WBC-Titel. Doch die Verhandlungen zogen sich erneut.
"Makabus Team hat sehr viele Steine in den Weg gelegt, hat alles versucht, um das Duell zu vermeiden", sagt Mikaelian. Dank der Don-King-Connection und "meinem starken Team, das alles darangesetzt hat, dass der Kampf stattfindet", habe es letztlich mit der WM-Chance geklappt. Am Samstagabend (Florida-Zeit) bekommt Mikaelian im "Casino Miami Jai Alai" Makabu endlich vor die Fäuste, auch wenn der wegen Visa-Problemen die finale Pressekonferenz versäumte und erst kurz vor knapp im Sunshine State aufkreuzte.
Ansatzlose Rechte mal "antesten"
Mikaelian geht äußert selbstbewusst in das Faustgefecht gegen den 35-jährigen Rechtsausleger aus dem Kongo. Makabu (Kampfbilanz: 29 Siege, 3 Niederlagen, 25 Knockouts) habe in den vergangenen Jahren viele gute Boxer geschlagen und haue eine "richtige linke Kelle". Außer einem gefährlichen linkem Haken "sehe ich aber nicht viel", so Mikaelian: "Er hat keinen guten Jab, keine gute Beinarbeit, er ist nicht sehr strategisch, verlässt sich nur auf seinen Punch. Ich sehe mich allgemein als viel besseren Boxer und glaube, der Boxer wird den Puncher letztlich schlagen."
Mikaelian (26 Siege, 2 Niederlagen, 11 K.o.) hat sich in Miami mit dem Kubaner Pedro Diaz akribisch vorbereitet. Der renommierte Trainer stand schon beim Briedis-Kampf in seiner Ecke, die kubanische Boxschule ließ sich sehen: Mikaelian boxte noch variabler, unvorhersehbarer, unangenehmer als zuvor. Gegen Makabu soll die Krönung folgen. Die ansatzlose Rechte werde er sicher mal "antesten", kündigt Mikaelian an. Mit dem als "Southpaw Killer" verschrienen Schlag habe schließlich auch Badou Jack Erfolg gehabt. Ansonsten gelte es, "die linke Seite zu kontrollieren gegen den Rechtsausleger - ein Klassiker. Und dann werde ich mir schon was einfallen lassen", deckt der 33-Jährige sein Box-Blatt noch nicht ganz auf.
Seinem eher defensiven, auf Konterattacken ausgerichteten Stil möchte Mikaelian treu bleiben. "Ich kann das alles bisher so lange machen, weil ich nicht viel abbekommen habe. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man viel mehr abbekommt, wenn man offensiver ist", sagt der Ring-Stratege mit einem Lachen. Er wolle Makabu auf seine Art schlagen. "Ob das ein K.o. wird oder ich ihn ausboxe und nach Punkten gewinne, spielt für mich keine Rolle. Ich will nur keine Verletzung davontragen und eindeutig gewinnen."
Erster Weltmeister in den USA seit Schmeling?
Und die Punktrichter? Die Angst vor einem weiteren Fehlurteil schwinge im Hinterkopf mit, räumt Mikaelian ein. "Aber wir sind jetzt hier: Miami ist mein Wohnsitz und für diesen Fight bin ich bei Don King unter Vertrag", hofft der deutsche "Box-Auswanderer" auf einen Heimvorteil. Dabei weiß Mikaelian, dass auch Makabu ein Papier bei dem 92-jährigen Promoter-Paten mit der Starkstromlocke unterschrieben hat.
Noel Mikaelian, 1990 in Armenien geboren, Mutter Deutsche, in Berlin und Hamburg aufgewachsen, kann am 4. November Geschichte schreiben. Only in America? Mikaelian wäre der erste Deutsche seit Max Schmeling 1930 (!), der sich in den USA zum Box-Champion krönt. "Das hatte ich gar nicht auf dem Zettel, hatte ich ganz vergessen. Es wäre eine Ehre, wenn ich das nach mehr als 90 Jahren schaffen würde. Ich wäre überaus glücklich", sagt er.
Nicht auf dem Zettel hat scheinbar auch Box-Deutschland seinen vielleicht einzigen Weltklasse-Kämpfer. Mikaelians Auftritt ist in der Nacht auf Sonntag nur via Pay-per-View-Livestream bei "Fite TV" zu sehen: für 14,99 Dollar. Aus den Augen aus dem Sinn? Nicht für Mikaelian. "Meine Wurzeln liegen in Deutschland. Ich liebe Deutschland, liebe es, nach Deutschland zu kommen - das ist immer noch mein zuhause", betont er. Nach dem Kampf gehe es deshalb auch nach Hamburg. "Dann komme ich mit dem Titel - und dann wird erst einmal mit deutschem Bier gefeiert."
Quelle: ntv.de