Für Struff "ist noch viel drin" Eine deutsche Tennissensation mit 14 Jahren Anlauf
08.05.2023, 14:58 Uhr
Jan-Lennard Struff, Aufsteiger.
(Foto: picture alliance / newscom)
Jan-Lennard Struff schreibt eine große deutsche Tennisgeschichte: Beim Masters-Turnier in Madrid erreicht der 33-Jährige das Endspiel. Als erster Lucky Loser überhaupt. Jetzt soll es erst richtig losgehen.
Eigentlich war alles schon vorbei, bevor es losging: In der Qualifikation fürs Masters-Turnier in Madrid unterlag Jan-Lennard Struff dem Russen Aslan Karatsev glatt in zwei Sätzen. 4:6, 2:6 hieß es, der Deutsche war völlig chancenlos. Und draußen. 8265 Euro hätte der 33-Jährige mitgenommen sowie 8 Weltranglistenpunkte und hätte weiterziehen können. Ein Challenger-Turnier hätte sich einschieben lassen, ein Event aus der zweiten Liga des Welttennis. Die komplizierte Ochsentour abseits des Rampenlichts. Doch weil Spieler ihre Teilnahme kurzfristig zurückzogen, durfte Struff bleiben und doch als Lucky Loser noch im Hauptfeld antreten.
Und dann passierte die Sensation: Der Deutsche gewann und gewann und gewann, ab der zweiten Runde immer in drei Sätzen, Runde für Runde. Er schlug den an Position 32 gesetzten Ben Shelton, er schlug Dusan Lajovic, der eine Woche zuvor erst Dominator Novak Djokovic und kurz darauf Andrey Rublev besiegt hatte, er schlug den an 4 gesetzten Stefanos Tsitsipas und als er im Halbfinale auch noch Aslan Karatsev im zweiten Versuch niedergerungen hatte, war das Tennismärchen perfekt: Als erster Lucky Loser überhaupt erreichte Jan-Lennard Struff aus Warstein das Finale eines Masters, der zweithöchsten Kategorie unter den Tennisturnieren der Welt.
Im Endspiel behielt Carlos Alcaraz, Nummer 2 der Welt und auf spanischer Asche in seiner Karriere noch immer unbesiegt, mit Mühe die Oberhand. Wieder drei Sätze, wieder ein großer Kampf, am Ende reichte es nicht ganz. Dennoch sprach der Westfale im Nachgang vom "größten Erfolg seiner Karriere". Er werde noch ein paar Tage brauchen, um das zu realisieren. "Es ist verrückt, es war das beste Turnier meiner Karriere. Das tut gut, ich hoffe, es gibt mir einen Push", sagte Struff bei Sky. Aus Madrid bringt er mehr als 600 Weltranglistenpunkte mit und 580.000 Euro Preisgeld.
"Noch einiges drin für ihn"
Dass ausgerechnet Jan-Lennard Struff diese Außenseitergeschichte schreiben würde, ist vielleicht sogar die größere Sensation. Der Warsteiner ist keiner für den Glamour und inzwischen auch schon 33 Jahre alt. Er war mal für eine Woche die Nummer 29 der Weltrangliste, üblicherweise schlägt er knapp neben dem Rampenlicht auf. In die Saison 2023 startete er nach einem komplizierten Jahr von weit jenseits der Top 100.
Nun ist er im 14. Jahr seiner Profilaufbahn die Nummer 28 der Weltrangliste. Es ist ein Karrierehöhepunkt. Das Ende des Trends, der sich mit der Viertelfinalteilnahme kurz zuvor in Monte-Carlo schon angedeutet hatte, muss das noch nicht sein. "Wenn es ginge, würde ich jetzt Struff-Aktien kaufen", sagte Davis-Cup-Teamchef Michael Kohlmann jüngst dem SID: "Da ist noch einiges drin für ihn." Wegen einer schwachen Vorsaison, in der Struff, gehandicapt von einer langwierigen Zehenverletzung, bis auf Platz 168 der Weltrangliste abstürzte, hat der 1,93-Meter-Hüne in den kommenden Wochen kaum Punkte aus dem Vorjahr zu verteidigen. "Er hat oft genug gezeigt, dass er in der Lage ist, vereinzelt gute Gegner zu schlagen. Das hat er letztes Jahr auch im Davis-Cup getan", sagte Kohlmann: "Er hatte das Bewusstsein, es nur noch nie geschafft, es über zwei Wochen umzusetzen."
Sechs Turniere gewann Struff in seiner Karriere, allesamt auf der zweitklassigen Challenger-Tour, wo Spieler abseits der absoluten Weltspitze um Punkte kämpfen, die ihnen die Tür zu den ganz großen Events öffnen sollen. Auch in diese Saison war Struff in der zweiten Liga des Welttennis eingestiegen, rund um die Erstrundenpleite bei den Australian Open spielte er Challenger nach Challenger. Halbfinale in Canberra, Erstrundenaus in Vilnius, Viertelfinale in Pau, Halbfinale in Phoenix. Es ist viel Arbeit und viel Reiserei für wenig Geld und wenige Weltranglistenpunkte. Wer früh verliert, zahlt auch mal drauf.
Eine Anekdote aus dem vergangenen Herbst illustriert, wie Struff, der Weltklassespieler, funktioniert. Die Davis-Cup-Zwischenrunde absolvierte die deutsche Mannschaft in Hamburg, vor einer eine Woche lang enttäuschenden Kulisse. Das riesige Stadion am Rothenbaum war selbst bei den deutschen Spielen bestenfalls zu einem Viertel gefüllt. Ob er beim Betreten des Stadions erschrocken gewesen sei über die leeren Ränge, wurde Struff damals gefragt. "Nein", antwortete er, "erschrocken war ich, als ich die Ticketpreise gesehen habe. Das war absolut verständlich, dass wahrscheinlich nicht so viele Fans kommen werden, weil es einfach brutal teuer ist, und das finde ich sehr schade."
Ein Sieg, der Auftrieb brachte
Der Profi selbst war vorbereitet auf die leeren Ränge - weil er sich schon im Vorfeld über den Stand des Vorverkaufs informiert hatte. Und berichtete beiläufig von seiner Recherche beim Vorverkaufsportal Eventim. Dort zeigen bunte Punkte freie Plätze in der Arena an, graue die bereits belegten. Es ist kein komplexer Vorgang, das herauszubekommen, aber man muss es wissen. Und wollen. Und sich überhaupt interessieren, um ein paar Klicks rechts und links der eigenen Karriere zu investieren. Jan-Lennard Struff interessiert sich für die Dinge. Er bleibt dran, auch wenn es abseits des Rampenlichts passiert. Und er ist bei sich. Für die Fans ist er, der Fan von Borussia Dortmund, "einer von uns".
Im Davis-Cup-Team ist Struff längst unverzichtbar, wenn er spielen kann, spielt er. Immer und egal wo. In den tristen Tagen von Hamburg gewann er im September 2022, gerade von einem enttäuschenden Challenger in Cassis (Zweitrundenaus, sieben Weltranglistenpunkte, 730 Euro Preisgeld) gekommen, alle drei Matches. "Es bedeutet mir unglaublich viel, diesen Punkt für Deutschland geholt zu haben", jubelte er nach dem Sieg gegen Frankreichs Benjamin Bonzi, damals über 80 Plätze besser postiert als er selbst. Deutschland zog in Abwesenheit von Spitzenspieler Alexander Zverev ins Viertelfinale ein. Dort schlug Struff den kanadischen Topspieler Denis Shapovalov im Tiebreak des dritten Satzes. Ein Sieg, der Struff "unglaublichen Auftrieb gegeben" habe, wie Teamchef Kohlmann verriet.
Auch in den Tagen von Madrid hat Struff begeistert, mit Kampfgeist, Qualität und Mentalität. Kohlmann berichtet von einer Szene, die ihn beeindruckt habe. Die Sekunden, nachdem Außenseiter Struff den zweiten Satz gegen French-Open-Finalist Stefanos Tsitsipas verloren hatte. Ein schwieriger Moment. "Normalerweise erwartet man, dass ein Spieler dann erstmal niedergeschlagen und frustriert ist. Nicht so Struffi. Er setzt sich auf die Bank und zeigt die Faust in Richtung Box", erzählte Kohlmann in einem Interview mit dem Deutschen Tennis-Bund.
"Ich finde, das ist so ein unglaublich gutes Zeichen. Er demonstriert nach einem harten Rückschlag sich und seinem Gegner: Ich bin da, ich kämpfe weiter und ich hole mir den Sieg noch." Ein Ausnahmetalent war Struff nie, er ist ein Arbeiter. "Nach der Schule wusste ich einfach nicht, wie gut ich bin. In der Jugend war ich nicht so gut wie viele andere", erzählte er 2021 in einem Interview von den Anfängen, "aber dann ist es klarer geworden, dass ich so einige Leute schlagen kann. Dann spürt man das." Zu Beginn seiner Laufbahn versuchte er zwanzigmal erfolglos, sich durch die Qualifikation ins Hauptfeld eines ATP-Turniers zu arbeiten, bevor es endlich klappte und die Sache irgendwann Fahrt aufnahm. Acht Millionen Dollar an Preisgeldern hat Struff seit seinem ersten Auftritt auf der Profitour eingespielt, der Scheck aus Madrid ist der größte seiner bisherigen Laufbahn.
Zu erfolgreich für den nächsten großen Wurf
Es ist nur eine These: Aber hätte Alexander Zverev, Deutschlands ohne Zweifel bester Tennisspieler, der sich nach seiner schweren Verletzung dieser Tage weiter zurück zu alter Form kämpfen muss, Struffs Mentalität, wäre er noch schwerer zu besiegen. Und hätte Struff, der mit großer Power und großem Willen spielt, ein paar von Zverevs Schlägen, er wäre reif für ganz große Titel. Ein bisschen Zeit gibt er sich dafür noch. "Es stehen so langsam die letzten Jahre bevor, obwohl ich überhaupt noch nicht daran denke, aufzuhören", sagte der 33-Jährige Anfang des Jahres dem WDR. Sein Antrieb sei vor allem "die Liebe zum Spiel", doch er gab auch zu: "Den meisten Spaß hat man, wenn man mehr gewinnt und höher in der Weltrangliste steht." Der Spaß, er ist längst zurück in der Karriere Struffs.
In Kürze steht mit den French Open das größte Sandplatz-Event der Tenniswelt an. Und Struff, der 33-Jährige, der sich über die zweite Liga in die Saison kämpfte und dann als Lucky Loser ein Tennismärchen schrieb, ist dort nach grandiosen Wochen gesetzt. Zum ersten Mal überhaupt bei einem Grand-Slam-Turnier. Der Weg nach Paris führt für die Tenniselite noch über Rom und das dortige Masters-Turnier. Und Struff lässt aus. Weil er in Madrid zu erfolgreich war und weil der große Sprung in neue Sphären zu spät kam: "Ich hätte schon Montag dort Qualifikation spielen müssen, das ging nicht", sagte er. Zwei freie Tage gönne er sich nun, dann geht es weiter.
Quelle: ntv.de