Warum die WM ruhig blieb "Es gibt eine Tendenz zur Militarisierung"
28.07.2014, 14:27 Uhr
Immer unter Kontrolle: Massive Polizeipräsenz begleitete die spärlichen Proteste während der WM.
(Foto: imago/Xinhua)
Die befürchteten Gewaltausbrüche bei der WM sind ausgeblieben. Hinterlässt die Fifa ein sichereres Brasilien? Sicherheitsexperte Dennis Pauschinger ist skeptisch. Überwachung und Polizeipräsenz sorgten für Ruhe um die Stadien - ob die anhält, ist fraglich.
n-tv.de: Vor der WM sprach alle Welt von der bevorstehenden Protestwelle in Brasilien. Gehört haben wir dann wenig. Was ist passiert?

Dennis Pauschinger forscht in Brasilien zur Sicherheitsarchitektur bei sportlichen Großveranstaltungen.
Dennis Pauschinger: Es gab schon Proteste, aber eben sehr viel kleinere als vor der WM und vor allem während des Confederation Cups. Das hatte verschiedene Gründe: Die verschiedenen Gruppen in der Protestbewegung haben sich zerstritten über die Art und Weise des Protests. Es gab auch keinen Leader, der die Bewegung angeführt hat und alle Interessen vereint hat. Deswegen hat sich das verlaufen. Dazu kam, dass viele Menschen einfach Angst hatten, weil Demonstrationen oft in Gewalt ausgeartet waren. Außerdem ist Fußball ein Stück der Kultur. Als die WM begann, wollten viele sie einfach genießen.
Wie sah es nach dem 1:7 gegen Deutschland aus? Es gab ja die Sorge, dass die Stimmung nach dem Aus der Seleção kippen könnte.
Ja, davor hatte man hier Angst. Aber es gab nur eine kritische Situation in São Paulo mit kleineren Ausschreitungen. Insgesamt ist es auch danach sehr ruhig geblieben.
Welchen Anteil daran hatte die massive Sicherheitspräsenz?
Brasilien hat richtig viel Geld in Sicherheit investiert - über 660 Millionen Euro. In Rio hat die Polizei starke Präsenz gezeigt auf den Straßen, vor allem mit der Militärpolizei. Die Proteste, die beim Eröffnungsspiel losgegangen sind, wurden im Keim erstickt. Es gab kaum eine Demonstration, auf der mehr Demonstranten waren als Polizeikräfte. Protest war quasi gar nicht möglich.
Was meinen Sie damit?
Der Demonstrationszug in São Paulo am Eröffnungstag konnte gar nicht losgehen, weil die Polizei den Weg blockiert hat. Als es dann zu Ausschreitungen kam, hat auch die Polizei durchgegriffen. Da ging es schnell zur Sache.
Reden wir mal über die generelle Sicherheitslage. Sie haben schon einige Jahre in Brasilien gelebt. Wie war das Gefühl während der WM?
Es war eine Ausnahmesituation – mit unglaublich viel Polizei auf den Straßen. An jeder zweiten Ecke standen Militärpolizei und Guarda Municipal, vor allem in den Touristenvierteln. Das fühlt man sich schon sicherer. Wenn an der Copacabana die ganze Zeit Polizei patrouilliert, macht man sich weniger Sorgen, dass man überfallen werden könnte. Das wird natürlich so nicht bleiben.
Der "Spiegel"-Reporter Cordt Schnibben wurde genau an der Copacabana ausgeraubt, und schrieb dann über diese Erfahrung, die er mit vielen anderen WM-Touristen teilt.
Man muss sich vorstellen: Bei jedem großen Event in jeder großen Stadt sind Taschendiebe unterwegs und werden Menschen beklaut. Brasilien ist dafür bekannt, gerade an Stränden wie der Copacabana passiert das - bei der WM eben verstärkt, weil die Diebe wissen: Da sind viele Menschen, die mehr in der Tasche haben als sonst, und sie sind unachtsam in der Euphorie des Festes, und weil sie die Situation nicht einschätzen können. Diese Fälle sind also nichts Besonderes für die Situation in Brasilien wo Überfälle zur Tagesordnung gehören. Nur ist die Häufigkeit und die Vorgehensweise sicher brutaler als anderswo. Das Polizeiaufgebot auch an der Copacabana hat sicher einiges verhindern können, aber eben nicht alles.
Sie haben schon einige Jahre in Brasilien gelebt. Welche Erfahrungen haben Sie mit der alltäglichen Gewalt im Land gemacht?
Ich habe drei Jahre in São Paulo gelebt und dort studiert. 2006 gab es von einer kriminellen Organisation Angriffe auf die Polizei und den öffentlichen Nahverkehr. Man muss sich vorstellen: In São Paulo leben über 20 Millionen Menschen, es ist der Nabel der Wirtschaft Brasiliens, die wichtigste Stadt Südamerikas, und in der Stadt gab es zwei Tage keine Busse, die brannten nämlich in den Straßen. Kurz danach wurde ich von der Polizei kontrolliert. Die Beamten bitten einen nicht freundlich, den Ausweis zu zeigen. Das läuft mit vorgehaltener Waffe, an die Wand stellen, Rumgefuchtel und Geschrei.
Einmal bin ich nachts nach Hause gekommen, und vor dem Kulturzentrum lag ein Toter, weil ein Jugendlicher sich in einem Streit nicht anders zu helfen wusste, als den anderen zu erschießen. Das sind schon andere Verhältnisse als in Deutschland. Hier ist so etwas in manchen Gebieten Alltag.
Woran liegt das?
In Brasilien herrscht eine Kultur der Gewalt. Seit vielen Jahren ist Gewalt banalisiert worden. Das liegt auch daran, dass der Staat Gewalt als Mittel zum Zweck genutzt hat. Aber auch die Populärkultur - ob in der Musik, im Fernsehen - verherrlicht Gewalt. Inzwischen haben Menschen eine geringe Hemmschwelle; Gewalt anzuwenden, weil sie kein Beispiel haben, dass Gewalt kein Mittel ist, Konflikte zu lösen. Das führt unter anderem zu hohen Mordraten.
Von wie vielen Morden sprechen wir?
56.337 Morde im Jahr 2012. Das ist eine ganze Menge. Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren kommen sehr oft durch Waffengewalt zu Tode. Es gibt viele bewaffnete Überfälle. Es herrscht einfach ein ganz anderes Gewalt- und Konfliktpotenzial, als wir das in Deutschland kennen.
Sie haben schon gesagt, das Gefühl der relativ hohen Sicherheit wird nicht aufrecht erhalten bleiben. Der Weltfußballverband Fifa redet ja immer über die Vermächtnisse der WM. Was bleibt beim Thema Sicherheit?
Man muss das zweigleisig sehen: Die Investitionen, die in Material getätigt worden sind und in die Integration der Behörden, die sollten auch nachhaltig etwas für Stadt und Land hinterlassen. Der konkrete Aufwand, die WM zu sichern, hat sich aber natürlich auf die Orte konzentriert, an denen viele Touristen unterwegs waren: Das Zentrum, die Copacabana, die Stadien.
Das Sicherheitskonzept an sich stand unter der Überschrift: Integration und Zusammenarbeit der verschiedenen einzelnen Sicherheitsbehörden; Militärpolizei, Zivilpolizei, Bundespolizei, Militär. Ich glaube und hoffe, dass auf höchster Ebene eine Veränderung stattfinden wird, dass diese in Zukunft besser zusammenarbeiten. Das ist ein vernünftiger Schritt. Die Frage ist, ob so ein Großereignis wie die WM die Mordrate senken kann. Ob die Investitionen in die Sicherheit die Kriminalität verringern können. Ob der urbane Konflikt beendet werden kann, der vor allem in Rio zwischen Drogenhandel und Polizei herrscht. Für ein Fazit ist es da noch zu früh.
Auf Brasilien wartet schon gleich das nächste Großereignis: Die Olympischen Spiele in Rio 2016. Sie forschen zu Sicherheitsmodellen bei Sportgroßveranstaltungen. Wie sehen die derzeit aus?
Es gibt die Tendenz zur Militarisierung der Inneren Sicherheit bei sportlichen Großveranstaltungen. Ein starker Fokus liegt auf Überwachungstechnologien, zum Beispiel bei den Fanfesten. Nach 2006 sind diese Feste zum Standard geworden, die Fifa hat das zur Auflage für Gastgeber gemacht. Es gibt sehr gute Forschungen darüber, dass Fanfeste dazu dienen, Massen besser unter Kontrolle zu halten. Auch bei Olympischen Spielen wurden in der Vergangenheit vehement abgeriegelte Sicherheitsinseln für die Sportstätten geschaffen, die oft vom Rest der Stadt abgekoppelt sind.
Die WM als Experimentierfeld für neue Überwachungstechniken?
Ja. Ich selber bin erst am Anfang meiner Forschung, aber da gibt es für vergangene Turniere Forschungen. Die Sicherheitsindustrie hat ein Interesse daran, ihre neuesten Technologien während der WM oder bei Olympia zu zeigen und dann zu verkaufen. Sicherheit ist bei Olympia seit München 1972 ein großes Thema, nach dem 11. September hat das einen Schub bekommen. Wenn wir uns an London 2012 erinnern, da wurden auf den Häusern um den Olympischen Park Abwehrraketen stationiert. Und auch hier wurde das diskutiert. Da hat man das Gefühl, dass der Sicherheitsaufwand sich entkoppelt von der Gefahr.
Dennis Pauschinger ist EU Stipendiat im Erasmus Mundus Doktorandenprogramm "Doctorate in Cultural and Global Criminology (DCGC)" und wird von den kriminologischen Instituten der Universität Hamburg und der University of Kent betreut. In seiner Arbeit beschäftigt er sich mit globalen Sicherheitsmodellen sportlicher Großereignissen am Fallbeispiel der WM 2014 in Brasilien. Mehr Infos unter: www.dcgc.eu.
Mit Dennis Pauschinger sprach Christian Bartlau
Quelle: ntv.de