Harmonie und Missstände Olympia süß-sauer
21.07.2008, 17:42 UhrKnapp 40 Milliarden Dollar hat Chinas Führung in die olympische Infrastruktur investiert. Gesegelt wird 600 km östlich von Peking in Qingdao, die Reiter-Wettkämpfe wurden nach Hongkong vergeben. 20 Wettkampfstätten wurden gebaut. Vor allem das futuristische Nationalstadion "Vogelnest" mit einem Fassungsvermögen von 91.000 Menschen und die architektonisch gewagte und gelungene Schwimmhalle "Wasserwürfel" unterstreichen Chinas Anspruch auf Großartigkeit.
Für die sportlichen Sehenswürdigkeiten sollen die angebeteten Superstars, Wasserspringerin Guo Jingjing, Hürdensprinter Liu Xiang und der Basketballer Yao Ming sorgen. Und damit auch die ausländischen Asse wie US-Schwimmer Michel Phelps, der achtmal Gold anstrebt, gebührend angefeuert werden, wurde in Schulen und Universitäten das korrekte Jubeln eingeübt.
Rogges "stille Demokratie"
Chance und Risiko. Ob die zweiten Staatsspiele seit Moskau 1980 trotzdem zu farblosen, formatierten Spielen mutieren, hängt nicht zuletzt von Rogges Mut zur Entschlossenheit ab. Das olympische Wagnis in der 17-Millionen-Metropole ist die größte Herausforderung seiner siebenjährigen Amtszeit. Von ihrem Verlauf macht der Belgier sogar abhängig, ob er sich im kommenden Jahr für eine zweite Amtszeit zur Verfügung stellen und die Weltregierung des Sports für vier weitere Jahre anführen wird.
Rogges Credo der "stillen Diplomatie" im Umgang mit den Chinesen wurde nach den Boykott-Diskussionen gerade in der olympischen Krise im März und April vehement angeprangert. Manchmal wurde sein Schweigen so laut, dass die Strahlkraft der olympischen Werte, von denen Menschenrechte ein wesentlicher Bestandteil sind, bedenklich nachließ. Das IOC wirkte ohnehin seit der Vergabe der Spiele 2001 über weite Strecken bestenfalls als geduldeter Partner der chinesischen Gastgeber. Im olympischen Alltag wird sich Rogge nicht verstecken können.
Unvorhersehbarer Olympia-Sommer
"Das sind meine 18. Spiele. Ich habe jede Menge Erfahrung", betont der 66-Jährige, der so oft es geht im olympischen Dorf schlafen will und weiter hofft, dass Olympia China auf dem Weg zur Demokratie Entwicklungshilfe leistet. Transportchaos, Umweltprobleme und ein überinterpretierter Sicherheitsanspruch der Verantwortlichen sind seine größten Bedenken, aber "die Vorbereitung der Organisatoren war außerordentlich gut, und das werden die Spiele auch beweisen", so Rogge, "ich habe viel über diese Kultur gelernt."
Nach den blutigen Unruhen in Tibet und den gewalttätigen Angriffen auf den Fackellauf präsentierte sich China als beratungsresistenter, kontrollsüchtiger Polit-Gigant, der zur Supermacht des 21. Jahrhunderts aufsteigen will. Nach dem Erdbeben in Sichuan lösten die Ohnmacht ob der Naturgewalt und die demonstrierte Verletzlichkeit des Riesenreichs eine weltweite Mitleidswelle aus. Auch in dieser Polarität wird es ein unvorhersehbarer Olympia-Sommer.
Auf Tränen aufgebaute Harmonie
"Wenn erst einmal das olympische Feuer brennt, übernimmt der Sport und die Faszination Olympische Spiele gewinnt", ist DOSB-Präsident Thomas Bach überzeugt. Hervorragende Wettkampfstätten, ein exotischer Gastgeber, eine starke Heimmannschaft und alle 205 teilnehmende Nationale Olympische Komitees (NOK) versprechen Dramaturgie, Universalität und aufregende Spiele. Demgegenüber stehen Gefahren der Maßlosigkeit, Sicherheitsparanoia des Machtapparats und die unerfreuliche Dauerthematik Doping, die trotz der Rekordzahl von 4500 Tests omnipräsent ist.
Der bekannte Bürgerrechtler Hu Jia und der Anwalt Teng Biao haben diese Gegensätzlichkeit in einem offenen Brief an die Welt so beschrieben: "Sie werden die Wahrheit sehen können, aber nicht die ganze Wahrheit ... Sie werden nicht wissen können, dass die Blumen, das Lächeln, die Harmonie und der Wohlstand auf der Grundlage von Missständen, Tränen, Inhaftierungen, Folter und Blut aufgebaut sind." Olympia süß-sauer.
Quelle: ntv.de, dpa