"Pikachu" vs. Publikum Ricardo Pietreczko wird für einen Abend zum Darts-Bösewicht
15.11.2023, 06:50 Uhr
Verkehrte Darts-Welt: Sieger Ricardo Pietreczko angefressen, Verlierer Nathan Aspinall entspannt.
(Foto: picture alliance / Action Plus)
Vor einem Monat gefeierter deutscher Darts-Shootingstar, jetzt Teil einer großen Kontroverse beim Grand Slam: Ricardo Pietreczko gewinnt sein letztes Gruppenspiel gegen Nathan Aspinall, sein Auftritt aber sorgt für Irritationen und Unverständnis.
Ricardo Pietreczko will "einfach nur Darts spielen". Das sagt Deutschlands neuer Dart-Held mantraartig in jedes Mikrofon, wenn er nach dem Ziel für sein nächstes Spiel, sein nächstes Turnier oder seine erste WM-Teilnahme Ende dieses Jahres gefragt wird. Am Dienstagabend machte "Pikachu", wie der Nürnberger in der Darts-Szene genannt wird, jedoch das Gegenteil. Im letzten Gruppenspiel beim Grand Slam of Darts in Wolverhampton (England) gegen Nathan Aspinall spielte Pietreczko mit ernster und stoischer Miene.
Wie angefressen der 29 Jahre junge Deutsche auch zwei Tage nach seinem vorzeitigen Aus noch war, ließ er sich von der ersten Sekunde an anmerken. Beim Walk-On klatschte er mit keinem Zuschauer ab, würdigte das Publikum keines Blicks. In die TV-Kameras schaute "Pikachu" so, als würde er zum neuen Darts-Bösewicht werden wollen. Als die Partie losging, agierte er hektisch, warf seine Pfeile deutlich schneller als üblich und oft fahrig. Während des Spiels schüttelte er nach schlechten Aufnahmen demonstrativ mit dem Kopf. Eine Körpersprache des Grauens.
Weil aber auch Aspinall nicht ansatzweise seine Topform erreichte, konnte "Pikachu" das Spiel sogar knapp mit 5:4 für sich entscheiden. Über den sportlich respektablen Turnierabschluss konnte sich Pietreczko aber kein bisschen freuen. Nach dem routinemäßigen Handshake mit Gegner und Offiziellen ging der Nürnberger mit ernster Miene umgehend von der Bühne.
Zwei Tage nach Klatsche gegen Beau Greaves
Der Grund für den merkwürdigen Auftritt des 29 Jahre jungen Nürnbergers liegt zwei Tage zurück. Am Sonntagabend musste Pietreczko in seinem zweiten Gruppenspiel beim Grand Slam gegen Beau Greaves, die beste Spielerin der Welt, unbedingt gewinnen, um noch eine Chance auf das Achtelfinale zu haben. Der Druck auf den Schultern des Deutschen war also immens.
Doch das sollte nicht das größte Problem von Pietreczko sein, denn die Zuschauer in Wolverhampton stellten sich - wenig überraschend - auf die Seite ihrer Landsfrau Greaves. Pietreczko wurde vereinzelt ausgebuht und ausgepfiffen und reagierte darauf. Er ließ sich vom Publikum provozieren und provozierte selbst zurück. Das machte es - wenig überraschend - nur noch schlimmer. Das Publikum hatte sich längst auf den jungen Deutschen eingeschossen, Pietreczko konnte dem Spiel nicht mehr seinen Stempel aufdrücken, verlor gegen die 19-Jährige mit 1:5.
Dass "Pikachu" mit Buhrufen nicht umgehen kann, hat auch mit seinem stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zu tun. Bei einem Turnier in Leverkusen Anfang des Jahres machte er sich dafür stark, dass die Zuschauer seine Gegner nicht ausbuhen. Geholfen hat ihm das nicht. Ende September ließ er sich von Zuschauern schon einmal aus der Fassung bringen, als er bei der Hungarian Darts Trophy in Ungarn gegen einen lokalen Qualifikanten erst die Nerven und dann das Spiel verlor.
Wie sehr ihn Pfiffe des Publikums, ob gegen ihn oder seine Gegner ärgern, ließ er auch Ende Oktober am Rande der Europameisterschaft in Dortmund durchblicken. "Dazu will ich mich nicht mehr äußern", sagte Pietreczko nach seinem Erstrundensieg gegen den ausgebuhten Engländer Ross Smith zu ntv.de.
Er will doch nur Darts spielen
Der 29 Jahre junge Nürnberger ist ein Purist unter den Dartspielern. Einer, der gerne jede Minute seines Lebens mit dem Pfeilesport verbringt. Einer, der akribisch Buch führt über seine Spielstatistiken. Einer, der zu jedem Zeitpunkt weiß, auf welchem Weltranglistenplatz er selbst oder seine Gegner stehen. Einer, der "einfach nur Darts spielen" will und mit dem ganzen Drumherum am liebsten nichts zu tun haben will.
Machen die äußeren Umstände das "einfach nur Darts spielen" möglich, gehört Ricardo Pietreczko in seinem zweiten Jahr auf der Profi-Tour der Professional Darts Corporation (PDC) bereits zu den besten seiner Zunft. Der sensationelle Titelgewinn bei den German Darts Championship im Rahmen der European Tour Mitte Oktober kam nicht von ungefähr, der Achtelfinale-Einzug bei der Europameisterschaft in Dortmund Ende vorigen Monats auch nicht.
Ist das "einfach nur Darts spielen" aber nicht möglich, verliert die Nummer 42 der Weltrangliste einen Großteil seiner Qualität. So war es in dieser Woche beim Grand Slam, dem vorletzten großen Turnier vor der Weltmeisterschaft in London (15. Dezember bis 3. Januar) und gleichzeitig das einzige Event im Jahr mit einer Gruppenphase.
"Wollte Statement setzen"
In seinem Auftaktspiel am Samstagnachmittag hatte Pietreczko den Weltranglisten-13. Damon Heta am Rande einer Niederlage, vergab aber einen Matchdart. Gegen Greaves blieb "Pikachu" unter seinen Möglichkeiten, weil er seine Nerven verlor. Sein Achtungserfolg über Aspinall wird einzig wegen seiner kritikwürdigen Körpersprache in Erinnerung bleiben.
Er habe "ein Statement setzen" wollen, sagte Pietreczko ein paar Stunden nach dem Spiel, zugeschaltet in einem Instagram-Video von Dazn-Kommentator Elmar Paulke, der den Auftritt zuvor mit dem einer "beleidigten Leberwurst" verglichen hatte.
Gut angekommen ist das Zuschauer-kritische "Statement" keineswegs. Der britische Darts-Experte Dan Dawson schrieb bei X, ehemals Twitter, verwundert: "Pikachu spielt wie ein Mann, der Groll gegen das gesamte Publikum hegt, auch wenn hier wahrscheinlich keine einzige Person anwesend ist, die vor zwei Tagen da war." Und auch die ausrichtende PDC schrieb auf ihrem offiziellen Account, Pietreczko habe "sehr seltsam" gespielt. Beobachter, Fans und Experten dürften nach diesem durchaus denkwürdigen Darts-Abend einig sein, dass "einfach nur Darts spielen" das bessere Statement von Ricardo Pietreczko gewesen wäre.
Quelle: ntv.de