Wembanyamas grandioser Start Die NBA verneigt sich vor dem Jahrhunderttalent
02.11.2023, 20:33 Uhr
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Seit LeBron James ist kein Spieler mit mehr Vorschusslorbeeren und höheren Erwartungen in die NBA gekommen als Victor Wembanyama. Der 19-Jährige braucht - trotz Anfangsschwierigkeiten - nur eine Woche, um auch Skeptiker zu überzeugen, dass er schon bald dominieren wird.
Es waren weniger als zehn Sekunden auf der Spieluhr, als Victor Wembanyama mit seinen 2,25 Metern Körpergröße samt 2,40 Meter Spannweite in Richtung Korb flog. Der Fehlwurf seines Teamkollegen Devin Vassell war soeben an den Ring gesegelt, aber "Wemby" sicherte den Abpraller und vollstreckte per Tip-Dunk zum 113:114. In der nächsten Sequenz klaute San Antonios Keldon Johnson den Ball von Superstar Kevin Durant und erzielte den entscheidenden Treffer zur 115:114 Führung, knapp eine Sekunde vor Schluss. Die Spurs landeten trotz zwischenzeitlichem 20-Punkte-Rückstand einen phänomenalen Comeback-Sieg gegen Phoenix, einen der größten Titelfavoriten ligaweit.
Der Nummer-Eins-Pick zeigte mit 18 Punkten, acht Rebounds und vier Blocks seine bisher beste Saisonleistung. Es war nicht nur seine Effizienz, die verblüffte. Es waren auch nicht die Highlights, wie zum Beispiel sein kleines Privatduell mit Durant inklusive spektakulärem Drive und Dunk mit links in Halbzeit eins. Es war, zum wiederholten Male in dieser jungen Spielzeit, sein Kampfgeist, seine mentale Widerstandskraft und die Fähigkeit, sich von Rückschlägen zurückzukämpfen: 9 seiner 18 Zähler kamen im Schlussviertel, wo er vier seiner fünf Versuche aus dem Feld traf, darunter auch die Big Points in Crunchtime.
Zu Durant - ein 2,11 Meter großer Allrounder, zweifacher Meister, 13-facher All-Star und der vermeintlich vielseitigste Scorer aller Zeiten - sieht Wembanyama besonders auf, nennt ihn ein Vorbild. Dass er sich vor "KD" nicht versteckte, sondern mutig den direkten Vergleich suchte, wie einst Kobe Bryant mit Michael Jordan, spricht Bände. "Ein einmaliger Spielertyp, der lange dominieren wird", attestierte ihm der Veteran nach der Partie. "Er ist immens talentiert und kann viele Dinge auf dem Parkett. Er ist lang, athletisch, kann werfen und verteidigen, spielt mit viel Energie. Sobald er er ein bisschen Erfahrung gesammelt hat, ist die Liga in großen Schwierigkeiten."
"Work in progress"
Das Jahrhunderttalent akzeptierte Durants Lob - wie jede Ehrung, die ihm zuteil wird - mit seiner ureigenen Distanziertheit und Abgeklärtheit. Er scheint immer die Perspektive zu wahren, den Blick aufs große Ganze gerichtet zu halten. "KD ein ganz besonderer Spieler. Ich habe heute gemerkt, wie weit ich davon entfernt bin, das Spiel zu meistern wie er. Ich habe längst nicht so viel Geduld. Ich will zu schnell spielen. Er aber hat seinen eigenen Rhythmus, lässt sich Zeit, kommt in aller Ruhe dorthin, wo er will. Das ist etwas das ich - wenn nicht kopieren - dann aber mich definitiv von ihm inspirieren lassen möchte."
Vier Partien hat Wembanyama mittlerweile in der NBA absolviert, die Ergebnisse waren gemischt. Bei seinem NBA-Debut gegen Dallas sammelte er 15 Punkte, fünf Rebounds und zwei Steals ein. Der erste Treffer seiner NBA Karriere: ein Dreier nach Pick & Roll, von der Birne, direkt ins Gesicht von Maxi Kleber. Megastar Luke Doncic sagte anschließend "Er wird mal unglaublich, ist es jetzt schon. Er ist so groß, und bewegt sich trotz seiner 2,25 Meter wie ein Point Guard. Das ist unfassbar anzusehen, eine Augenweide. Seine Zukunft ist großartig." In Spiel zwei verhalf Wemby den Spurs zum Heimsieg nach Verlängerung gegen Houston, steuerte starke 21 Punkte, zwölf Rebounds, drei Steals und drei Blocks bei. Gegen die L.A. Clippers waren Wembanyama und San Antonio dann chancenlos, der Nummer eins Pick zeigte mit elf Punkten und fünf Rebounds seine bisher schwächste Leistung.
Das Spiel ist eindeutig noch zu schnell für ihn - Standard für so gut wie alle Rookies, wenn sie frisch in die NBA kommen. 19 Ballverluste in den ersten vier Partien sowie eine Vielzahl von meist überhasteten Dreierversuchen haben seine Effizienz bisher eingeschränkt. Er hat seine ideale Rolle und Position lange nicht gefunden, trifft bisweilen fragwürdige Entscheidungen. Das hat nicht unbedingt nur mit ihm selbst zu tun. San Antonio spielt ohne nominellen Point Guard, das gesamte Team ist blutjung, unerfahren und unausgewogen zusammengestellt. Wembanyama bekommt nicht ansatzweise die Anzahl an Wurfversuchen in Brettnähe, die er sollte; seine Nebenleute sind nicht als Schützen bekannt, weshalb gegnerische Defensiven sich auf ihn konzentrieren und doppeln können. Die Spurs sind jung, energisch, spielen hart - allerdings in vielen Phasen auch ohne die nötige Durchschlagskraft und mit der Fahrlässigkeit einer Youngster-Truppe, von der nicht viel erwartet wird.
Hype wie einst nur LeBron
Auf Wenbanyama selbst trifft das freilich nicht zu. Seit LeBron James 2003 ist kein Spieler mit mehr Vorschusslorbeeren und höheren Erwartungen in die NBA gekommen als er. "King James", Magic Johnson und Larry Bird zur Saison 1979-80 noch außen vor, zog die Ankunft des langen Franzosen mehr Menschen in den Bann als der Auftakt irgend eines Spieler sonst in der Geschichte dieser Liga. Johnson und Bird setzten ihre College-Rivalität auch bei den Profis fort und veränderten damit für immer die weltweite Trajektorie dieses Sports. James wechselte direkt von der High School zu den Profis und überzeugte vom ersten Tag an. Was damals aber noch völlig anders war als heute: die mediale Aufmerksamkeit rund um die Uhr.
"Jeder will heute ein Einhorn, aber er ist mehr ein Alien", sagt der 38-Jährige von den Los Angeles Lakers über den Neuling. "Niemand hat jemals so einen Spieler gesehen, so groß und gleichzeitig so beweglich und geschmeidig auf dem Parkett. Es ist faszinierend, wie er dribbeln kann, aus dem Post werfen, Dreier werfen, Würfe blocken... Ein wirklich einmaliges Talent." Den Saisonauftakt des Wunderknaben verfolgten 2,99 Millionen Zuschauer am TV und 4,3 Millionen in der Spitze - das am meisten verfolgte "Opening Night Game" in elf Jahren. Mehr als 200 Millionen Videoaufrufe in den sozialen Medien an nur einem Tag illustrieren den Hype, dem Wembanyama mittlerweile ausgesetzt ist, an den er sich aber längst gewöhnt hat, seitdem er während seiner letzten Saison bei den "Metropolitans 92" täglich von Kameras, Video-Teams und Scharen von Fans begleitet wurde.
"Zum Glück ist er seinen Jahren weit voraus", befindet Coaching-Legende Gregg Popovich, der in seinen mittlerweile 35 Jahren in der Liga alles gesehen hat und seinen Vertrag in San Antonio um fünf Jahre verlängerte, direkt nachdem sein Klub im Mai zum dritten Mal vom ganz großen Draft-Glück geküsst wurde. "Ich hatte Bedenken, wie ich ihn vor dem ganzen Theater beschützen kann. Aber das muss ich gar nicht. Er ist ein intelligenter und bedachter junger Mann, hat Humor, weiss, was er will. Er war bereits Profi, bevor er hierher kam. Er weiss, wie er damit umgehen muss. Das muss ich ihm also nicht mehr beibringen."
Auf den Schultern von Riesen
Es ist bezeichnend und poetisch zugleich, dass der Franzose just in jenem Jahr in die Liga tritt, in dem sein neuer Coach Popovich sowie die Euro-Legenden Dirk Nowitzki, Tony Parker und Pau Gasol in die "Hall of Fame", die Ruhmeshalle des Basketballs aufgenommen wurden. Dass er dabei auch noch ausgerechnet bei jenem Team landet, dass wie kein anderes für die Internationalisierung und Öffnung des Spiels über die US-Grenzen hinaus verantwortlich ist, macht das Ganze auch aus Marketing-Sicht für die Liga perfekt.
Tim Duncan und David Robinson, ebenfalls Big Men, waren San Antonios Nummer eins Picks vor Wembanyama. Mit Popovich an der Seitenlinie gewannen die beiden "Twin Towers" den NBA-Titel 1999, der erste in der berüchtigten Historie dieser Franchise, die rekordträchtige 22 Mal in Folge die Playoffs erreichte. Duncan, Point Guard Parker und der enigmatisch-geniale Argentinier Manu Ginobili gewannen später unter Popovichs Ägide vier weitere Meisterschaften, die bisher letzte davon 2014. Wembanyama war damals zehn Jahre alt und in einem Pariser Vorort kurz davor, denselben Weg einzuschlagen wie all diese Legenden vor ihm.
"Im Jahr 2045 werden alle Basketballer wie Victor sein", glaubt der Grieche Giannis Antetokounmpo, der wie Wembanyama als dürres Euro-Talent über den Teich kam und es zum Champion und Superstar gebracht hat. "Er ist einfach unfassbar, Mann. Er wirft über dich hinweg, ist schnell, dribbelt, verteidigt. Ich glaube, er kann einer der Besten aller Zeiten werden." In den vergangenen zehn Jahren hat sich in der besten Basketball-Liga der Welt viel geändert. Das Spiel ist internationaler denn je, Europäer wie der "Greek Freak", "Luka Magic" und der amtierende Finals MVP Nikola Jokic sind das Maß aller Dinge.
Die Spurs hingegen haben seit 2020 die Playoffs nicht mehr erreicht. Die zuletzt 22 Siege und 60 Niederlagen waren die schlechteste Leistung seit der Saison 1996-97, das Jahr bevor sich mit Duncans Ankunft das Schicksal dieser Franchise für immer drehte. Viele Beobachter erwarten sich einen ähnlichen Effekt von Wembanyama. "Wir haben hier nicht mehr ansatzweise so viel Talent wie früher. Typen wie Timmy, Manu oder Tony gibt es hier nicht mehr. Es wird also nicht allzu lange dauern, bis Victor 'The Man' sein wird. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich nachgebe und ihn machen lasse", prophezeit Popovich bereits jetzt, dass er die Schlüssel zur Franchise bald an seinen Wunderknaben übergeben wird.
Großartig in Texas
Nicht nur in der drittgrößten texanischen Stadt nach Dallas und Houston ist längst "Wemby-Mania" ausgebrochen. Sein Spurs-Trikot mit der Nummer eins war im Sommer schneller ausverkauft als die berühmt-berüchtigten Frühstücks-Tacos in der "Alamo City". Als Wembanyama nach dem NBA Draft zum ersten Mal in San Antonio landete, warteten Tausende von Fans trotz 40 Grad Hitze am Flughafen, um den Teenager willkommen zu heißen. Zum ersten Trainingsspiel im Oktober packten sich mehr als 13.000 Fans ins "Frost Bank Center", um einen ersten Blick auf das Jahrhunderttalent zu erhaschen. Und beim ersten Heimspiel der Saison vergangene Woche gegen Dallas verteilte der Klub mehr als 200 Akkreditierungen an Journalisten aus der ganzen Welt, die extra wegen Wembanyama eingeflogen waren.
Soviel Interesse für einen einzigen Spieler, der zudem neu in der Liga ist, kann ablenken, kann Risse im Teamgefüge verursachen, kann schaden. Zum Glück für die Spurs hat sich Wembanyama nicht nur längst an die Aufmerksamkeit akklimatisiert und lässt das alles mit der Gleichgültigkeit eines Veteranen an sich abprallen. Er ist auch der ultimative Team-Spieler, dem der Erfolg seiner Mannschaft und die Beziehung zu seinen Kollegen wichtiger ist als alles andere. Die vielen Youngster in San Antonio haben ihn längst akzeptiert und ins Herz geschlossen - nicht nur, weil er so gut ist, sondern weil dank ihm auch sie bisher ungekannte Achtung und Verehrung erfahren. Gleich elf Partien der Spurs laufen heuer im nationalen TV, gegenüber einer einzigen im Vorjahr.
Es ist offensichtlich, wer dafür die Hauptverantwortung trägt. Bisher hat Wembanyama alle Erwartungen an ihn mehr als erfüllt. Er zeigt in Ansätzen bereits jetzt, dass er an beiden Enden des Parketts dominieren kann und der Schritt zum Superstar nur eine Frage der Zeit ist. Gleichzeitig ist auch klar, dass er sich erst noch an die NBA und das Spiel hier anpassen muss. Körperlich, aber vor allem mental. "Alle werden versuchen, ihn hart anzugehen, aus der Balance zu bringen und physisch zu zermürben. Das ist vermutlich die größte Umstellung für ihn", sagt Popovich. "Wir haben ein System, das muss er lernen, wie jeder andere Spieler auch. Er muss sich noch an die Liga gewöhnen, an seine Mitspieler. Das dauert alles seine Zeit, es ist ein Prozess. Es gibt keine Formel, jeder Schritt zählt. Zum Glück ist er schlau und lässt sich coachen, also wird er alle Ziele auch erreichen. Er wird großartig werden."
Quelle: ntv.de