Der wilde Weg des Michael Smith Das befreite Darts-Monster erobert die Welt
04.01.2023, 09:46 Uhr
Michael Smith kann sein Glück kaum fassen.
(Foto: dpa)
Michael Smith ist neuer Darts-Weltmeister. Binnen weniger Wochen feiert der "Bully Boy" seinen zweiten großen Titel auf der Tour. Die Geschichte des 32-Jährigen ist eine ganz besondere. Von seinen Anfängen bis zu seinem gerade erst überwundenen Final-Fluch.
Nein, der größte Moment in seinem Leben sei dieser Triumph nicht gewesen, sagte Michael Smith im ersten Moment nach dem größten Triumph seines Lebens. In einem epischen Finale bei der Darts-Weltmeisterschaft hatte der Engländer seinen niederländischen Konkurrenten Michael van Gerwen mit 7:4 in den Sätzen besiegt - und sich zum ersten Mal zum Champion der Pfeilewerfer gekürt. Und nicht nur das: Smith ist nun auch die neue Nummer eins der Welt, er löst den "Iceman" Gerwyn Price ab, und für alle Ewigkeiten der Gewinner des besten Legs, das die Darts-Welt je gesehen hat und das niemals mehr getoppt werden kann.
1994: Dennis Priestley (England)
1995 bis 2002: Phil Taylor (England)
2003: John Part (Kanada)
2004 bis 2006: Phil Taylor (England)
2007: Raymond van Barneveld (Niederlande)
2008: John Part (Kanada)
2009 und 2010: Phil Taylor (England)
2011 und 2012: Adrian Lewis (England)
2013: Phil Taylor (England)
2014: Michael van Gerwen (Niederlande)
2015 und 2016: Gary Anderson (Schottland)
2017: Michael van Gerwen (Niederlande)
2018: Rob Cross (England)
2019: Michael van Gerwen (Niederlande)
2020: Peter Wright (Schottland)
2021: Gerwyn Price (Wales)
2022: Peter Wright (Schottland)
2023: Michael Smith (England)
Dass Smith all diese Geschehnisse des Finalabends im legendären Alexandra Palace in seinem Leben richtig einordnet, an die zweite Stelle nämlich, hinter der Geburt seiner beiden Söhne, das ist ebenso sympathisch wie erstaunlich. Denn der "Bully Boy" hatte bereits zwei Endspiele auf der größten Darts-Bühne der Welt verloren und bis vor wenigen Wochen mit einem zehrenden Final-Fluch zu kämpfen. Erst beim Grand Slam hatte er sich das Selbstvertrauen geholt, auch Finalduelle bei den wichtigsten Turnieren gewinnen zu können. Acht Mal war er zuvor bei Major-Endspielen gescheitert. Das Mitleid war ihm gewiss. Doch Mitleid, das wollte dieser Smith nicht.
Smith übersteht Mega-Satz von van Gerwen
Seit Jahren ist er ein großes, vielleicht das größte Talent auf der Tour. Er trainiert viel und scort am Board wie kaum ein anderer. Im vergangenen Jahr etwa spielte er mehr 180er (die höchste Aufnahme mit drei Pfeilen) als jeder Konkurrent. Er hält auch die 180er-Rekorde in einem Spiel und einem Turnier. Beide erzielt bei der WM im vergangenen Jahr, als er Peter Wright im Finale unterlag. Smith kämpfte mit sich, mit seinen Nerven und gegen den Ruf, ein ewiges Talent zu bleiben. Wie gut ihm das gelungen ist, untermauert nicht nur der WM-Titel gegen van Gerwen, sondern auch die Art, wie er dieses Spiel gegen den Topfavoriten bestritt. Mit 6:3 in den Sätzen lag er bereits in Führung, ehe MvG mit frischer Kraft aus einer kleinen Pause kam - und sofort zum 6:4 verkürzte. Smith bekam Druck. Druck, an dem er noch vor einem Jahr womöglich noch zerbrochen wäre.
Doch Smith blieb stabil, er haderte nicht, er fokussierte sich neu. Eine Qualität, die er bei dieser WM immer wieder gezeigt hatte. Etwa auch in Runde drei, als gegen den Deutschen Martin Schindler bereits mit 1:3 in den Sätzen das Aus drohte - und sich dann doch noch aus den Fängen von "The Wall" befreite. Mit Können. Reichlich Glück bemühte er indes im Viertelfinale gegen Stephen Bunting. "The Bullet" scorte Smith, was nahezu undenkbar ist, in Grund und Boden, versemmelte aber fast alles auf die entscheidenden Doppelfelder. Smith ließ all das hinter sich - und triumphierte nun. Den ersten und einzigen Neun-Darter des Turniers inklusive. Und was war das für ein brillanter und historischer Moment für den Sport. Erst knallte MvG acht perfekte Darts ins Board, um dann die Doppel-12 auszulassen, ehe Smith es auf die Doppel-12 besser machte - 17 von 18 perfekte Darts, mehr geht nicht. Nie mehr. Und als er um 23.24 Uhr die Doppel-8 zum Sieg checkte, brach es aus ihm heraus.
Der "Bully Boy" hüpfte entfesselt über die Bühne, rannte sofort ins Publikum zu seiner Familie. Die beiden kleinen Jungs waren zu zwei mitreißenden Nebendarstellern geworden. Immer wieder fing die Weltregie sie ein, wie sie ihren Vater in Mini-Trikots anfeuerten. Brüllend, bebend. Neben der "Sid Waddell Trophy" nimmt Smith auch ein Preisgeld von 500.000 Pfund mit auf den heimischen Bauernhof. Dort soll in Zukunft auch ein Bulle weiden, diesen Traum hegt der 32-Jährige. Seinen Spitznamen, der mit Raufbold oder Schlägertyp übersetzt werden kann (was völlig in die Irre leitet), stammt aus einer Zeit, als er auf einer Rinderfarm arbeitete.
Aus Langeweile zum Darts gekommen
Smith hat sich immer durchs Leben gejobbt, eine abgeschlossene Ausbildung hat er nicht. Er wollte Schreiner werden, doch am Tag der finalen Prüfung, so erzählt man sich, habe er diese sausen lassen, um ein Turnier zu spielen. Eine Entscheidung fürs Leben. Wieder eine aus dem Bauch heraus. So hatte er mit dem Sport auch nicht aus Überzeugung angefangen, sondern aus Langeweile. Als 15-Jähriger brach er sich nach einem Fahrradunfall auf dem Schulweg die Hüfte, 15 Wochen an Krücken waren die Folge. Er griff zu den Pfeilen, warf seine erste 180 - und wählte den Weg ins Glück. Steil ging es bergauf. 2010 klopfte er erstmals in der Weltelite an, erreichte die Top32 bei den UK Open, 2013 wurde er Jugendweltmeister - Fun Fact: Er ist nun der erste Jugendchampion, der auch bei den "Erwachsenen" Weltmeister wurde - und 2014 schmiss er völlig überraschend Legende Phil Taylor in der 3. Runde aus der WM. Spätestens jetzt stand Smith bei allen Experten auf dem Zettel.
Doch sein Weg war gepflastert von Rückschlägen. Auf herausragende Matches folgten überraschende Pleiten. Smith bekam keine Konstanz in sein Spiel, weil er zu oft haderte. Sein eigener Perfektionismus stand ihm im Weg - bis zum November 2022, als er den Grand Slam gewann. Sein Gegner und Kumpel Nathan Aspinall sagte nach der Finalniederlage voraus, dass Smith den Sport nun dominieren werde. Das Scoring-Monster war erwacht. Ein Anfang ist gemacht und der neue Champion selbst hat Gefallen daran gefunden: "Ich möchte diesen Sport übernehmen, aber Michael ist immer noch hier", sagte Smith in Richtung von van Gerwen, der sich als äußerst fairer Verlierer präsentierte. "Heute geht es nicht um meine vergebenen Chancen, heute geht es darum, Michael Smith zu gratulieren. Großartig gemacht, genieß den Moment", sagte "Mighty Mike" nach einem der besten WM-Endspiele der Geschichte.
Quelle: ntv.de, tno