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Ganze Nation in seiner Ecke Wie Oleksandr Usyk zum Nationalheld der Ukraine wurde

Oleksandr Usyk ist in seiner ukrainischen Heimat ein Held.

Oleksandr Usyk ist in seiner ukrainischen Heimat ein Held.

(Foto: Nick Potts/PA Wire/dpa)

Von Oleksandr Usyk gibt es mehrere Videos, die zeigen, warum der 36-Jährige ein geborener Entertainer ist. In einem lässt er vier Münzen von seinem Handrücken in die Luft schnalzen und fängt sie, ehe sie auf den Boden klirren. Im Anschluss legt er ein lockeres Tänzchen aufs Parkett. Usyk ist ein Showman und damit im Preisboxen gut aufgehoben. Aber: Der Weltmeister im Schwergewicht ist kein Lautsprecher, kein Marktschreier wie sein Rivale Tyson Fury. Usyk ist ein ulkiger, bisweilen schrullig herüberkommender Showman. Einer, der ohne viele Worte auskommt. "Ich mag nicht, wenn Boxer so viel reden: Blah, Blah, Blah, Blah", sagte er vor seinem WM-Fight gegen den schlagstarken Briten Daniel Dubois (18 K.-o.-Siege in 20 Kämpfen) am Samstag (23 Uhr/live bei Bild+) im Stadion von Breslau.

Usyk ist ein Mann der Tat. Als Russland die Ukraine überfiel, zögerte der Weltmeister keine Sekunde, reiste über London und Polen nach Kiew, wo er sich einem Verteidigungs-Bataillon anschloss: "Um meine Familie, mein Land, meine Heimat zu verteidigen", wie er sagte. Erst Gespräche mit Soldaten hätten ihn überzeugt, dass es besser sei, wenn er sein Land als Boxweltmeister aller Klassen auf der Weltbühne vertrete, statt mit einer Maschinenpistole zu patrouillieren. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko und der Sportminister sahen das genauso. Seither boxt Usyk wieder und erfüllt sein Land mit Stolz. Im Vorjahr deklassierte er ein zweites Mal Englands Superstar Anthony Joshua. Am Samstag soll mit Dubois der nächste Brite fällig sein.

Alexander Krassyuk kennt Usyk seit fast zehn Jahren. Der Ukrainer arbeitet für die von den Klitschko-Brüdern einst gegründete Agentur "K2 Promotions", bei der Usyk nach seinem Wechsel ins Profigeschäft 2013 anheuerte. Im Interview mit sport.de/ntv.de spricht der Promoter über das Phänomen Usyk, dessen einzigartiges Charisma und den Status des Champions in der Ukraine.

ntv.de: Herr Krassyuk, können Sie beschreiben, welche Bedeutung Oleksandr Usyk für die Ukraine hat, welchen Status er in seinem Heimatland genießt?

Alexander Krassyuk: Er ist ein Mann seines Landes. Ein Patriot. Er ist kein Patriot des Wortes, sondern ein Patriot der Tat. Er kommt ursprünglich von der Krim, das macht dieses Thema noch sensibler. Als wir 2013 den Vertrag mit ihm unterschrieben haben, wohnte er in Simferopol. Nicht einmal ein halbes Jahr später wurde die Krim von Russland besetzt.

Wenn Usyk heute auf der großen Weltbühne auftritt, repräsentiert er die Ukraine voller Stolz und kämpft für die Ukraine. Er ist nicht nur ein Boxer. Er ist eine riesige Inspiration für die Nation. Er ist der Nationalheld.

Woran lässt sich das zum Beispiel festmachen?

Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Videos er von der Front bekommt, wie viele Texte und Bilder von Leuten an der Front, die, inmitten des Schlachtfelds, seinen Revanchekampf gegen Anthony Joshua geschaut haben – auf ihren Smartphones. Sie sind zusammengekommen und haben ihn angefeuert, ihn unterstützt. Sie haben ihm so viele inspirierende Botschaften geschickt. Man kann nicht anders als weinen (wenn man sie sieht, d.Red.). Einer etwa sagt voller Ernst: 'Alex, du bist unser Held, wir kämpfen für dich.' Darauf hat er geantwortet: 'Nein, Leute, ihr seid die wahren Helden. Ich kämpfe, um die Aufmerksamkeit der Welt auf die Ukraine zu ziehen, darauf, was ihr macht, auf euren Job. Für die, die für ihr Land kämpfen, für Freiheit und Unabhängigkeit. Das sind normale Leute. Deswegen widme ich meine Siege den Verteidigern der Ukraine.' Usyk ist sehr wichtig für das Land. Er ist sehr stark und er hat die Kraft in seinem Herzen, die Massen anzuführen.

Und dann hat er ja noch die "Usyk Foundation" gegründet, die viele Ukrainer in Zeiten des Krieges unterstützt und mit der er beispielsweise zerstörte Wohnblöcke wieder aufbauen lässt …

Er tut das alles nicht, damit ihn andere mögen oder nicht mögen. Er macht das nicht, weil ihn jemand darum bittet. Er macht das vom Grunde seines Herzens. Er fühlt, dass das seine Pflicht ist. Wenn er derjenige ist, der große Ergebnisse erzielt und einen beträchtlichen Betrag Geld zur Verfügung hat, dann behandelt er dieses Geld nicht, als wäre es sein Geld. Er sagt: Der Herr hat mir Chancen eröffnet und meine Pflicht ist es, mit jenen zu teilen, die in Not sind. Ich kenne ihn seit 2013. Er ist wahrscheinlich der bekannteste Held der Ukraine. Aber die ganze Ukraine ist von Helden bevölkert.

Hat er die Klitschko-Brüder Vitali und Wladimir sportlich und in puncto Popularität in der Ukraine schon überholt?

Man kann das nicht vergleichen. Vitali und Wladimir Klitschko waren sportlich auf dem gleichen Niveau zu ihrer Glanzzeit. Da waren sie genauso berühmt und wertvoll für die Nation. Vitali ist jetzt tief in der Politik und hat die Unterstützung von Millionen. Für das, was er sagt. Wladimir macht seinen Job, tut das sehr intelligent. Und Oleksandr Usyk leistet einfach seinen Beitrag als Profiboxer für unser Land.

Oleksandr Usyk hat eine unglaubliche Ausstrahlung. Man hat das Gefühl, dass er in Amerika längst ein Superstar wäre, wenn er besser Englisch spräche. Können Sie das Phänomen Usyk beschreiben?

Die Kraft seines Charismas bedarf keiner Sprache. Die USA werden da keine Ausnahme sein. Er ist einmal gefragt worden, was er nach seiner Karriere machen wolle. Da hat er gesagt: Vielleicht werde ich Präsident. Oder: vielleicht werde ich Hollywood-Star. Da würde ich keine Sekunde dran zweifeln.

Ich erinnere mich an unseren ersten Kampf in den USA im Jahr 2016. Er kämpfte im Rahmenprogramm, als Bernard Hopkins (amerikanische Box-Legende, d.Red.) seinen Abschiedskampf hatte. Auf einer Pressekonferenz hat Hopkins immer seine stundenlangen philosophischen Vorträge gehalten. Aber bevor er dran war, mussten wir die Boxer der Undercard vorstellen. Usyk war damals Cruisergewichts-Weltmeister und verteidigte seinen Titel. Es war ein zehnsekündiger Auftritt. Er kam auf die Bühne und sagte nur: 'Hello, I am Oleksandr Usyk – see you Saturday night.' Das war alles. Die Leute, die Journalisten haben alle nur geguckt und mit großen Augen verfolgt, wie er wieder von der Bühne runter ist.

Ist er so gut aussehend? So toll? So außergewöhnlich? Es ist die Kraft seines Charismas. Deswegen ist er bei so vielen Leuten in so vielen Ländern so angesehen. Wir haben ja die internationalen TV-Rechte für den Kampf am Samstag verkauft. Es ist kein Kampf, auf den die Welt unbedingt gewartet hat. Aber auf der ganzen Welt sind die Menschen sehr interessiert, Oleksandr Usyk zu sehen. Wegen seiner Errungenschaften. Und wegen seines Charismas.

Und bei der zweiten Pressekonferenz mit Daniel Dubois hat Usyk dann auf einmal angefangen zu rappen. Das war neu …

Usyk schreibt Gedichte. Seit vielen Jahren. Er rappt seine eigenen Gedichte. Davor hat er das nur mit seinem engeren Kreis geteilt. Jetzt war es an der Zeit, das laut zu sagen.

Warum findet der Kampf in Polen, in Breslau statt?

Nun, Tyson Fury hat sich gedrückt, also mussten wir die WBA-Pflicht erfüllen (Dubois ist die Nummer 1 der WBA-Weltrangliste und sogenannter "regulärer" Weltmeister, d.Red.). Die meisten Optionen gab es im Vereinigten Königreich. Dubois war britischer Meister und ist regulärer WBA-Weltmeister. Es sollte eigentlich in London oder Manchester stattfinden, in einer guten Arena, denn in England ist das Ganze kein Stadionkampf. Usyk ist in Großbritannien zwar ziemlich populär, aber Daniel Dubois nicht. Also, 20.000 bis 25.000 Plätze. Aber Usyk hat so lange nicht zuhause gekämpft. Wir haben immer die Möglichkeit diskutiert, den Kampf zuhause zu machen. Das ist einfach etwas anderes. Jeder Kämpfer sagt das. Da geht es nicht ums Geld, sondern um etwas tief in der Seele.

Nun, es gibt objektive Gründe, warum wir nicht nach Hause können. Polen ist am nächsten. Wir beide hatten in Gedanken gleichzeitig die Idee. Ich habe im April darüber nachgedacht, den Kampf in Polen zu machen. Hier ist es ein Stadionkampf, weil drei Millionen Ukrainer in Polen leben. Und die Polen sind sehr heiß darauf, einen großen Kampf zu sehen. Ich wollte Usyk das erzählen. Da rief er mich an und die Verbindung brach zunächst ab. Dann war er wieder dran und sagte: 'Ich habe angerufen, um dich zu fragen, warum wir den Kampf nicht in Polen machen?' Das bedeutet, dass es eine gute Idee war.

Wir haben die Optionen geprüft. Breslau war verfügbar. In Breslau leben mehr als 200.000 Ukrainer seit vielen Jahren, seit 15, 20 Jahren. Ich sehe es am Ticketverkauf. Es war eine gute Entscheidung.

Was halten Sie von Usyks Herausforderer Daniel Dubois? Kann er dem Champion überhaupt gefährlich werden?

Usyk ist der Favorit, ganz klar. Daniel Dubois ist erst 25, er ist sehr jung. Er hat keine große Erfahrung, hatte keine brillante Amateur-Karriere. Aber es ist nicht kompliziert, seine Stärken zu analysieren. In seinem letzten Kampf gegen Kevin Larena (Dezember 2022, d.Red.) hat er sich ernsthaft am Knie verletzt. Er war kaum in der Lage, zu stehen. Er war dreimal am Boden. Aber er hat den Willen und den Mut in seinem Herzen gefunden, um zurückzukommen und den Typ auszuknocken.

Wir kennen alle seine Schlagkraft. Er kann jedes Problem mit nur einem Schlag lösen. Er ist nicht so technisch, aber wenn er trifft, hat er ein sehr starkes Argument für den Sieg. Er ist jung, seine Kondition sollte gut sein. Wir unterschätzen ihn nicht. Usyk arbeitet hart, wirklich sehr hart. Wie immer. Egal, auf wen er sich vorbereitet. Anthony Joshua, Dereck Chisora, Tyson Fury – er würde immer den gleichen Job machen und versuchen, seine bisherigen Rekorde aus den Trainingscamps zu brechen.

Wie wird sich der Kampf am Samstagabend aus Ihrer Sicht entfalten?

Usyk wird langsam starten, wird schauen, was passiert, wie der Gegner sich bewegt, wie schnell er ist. Dann wird er eine Box-Lehrstunde geben, seine Beinarbeit nutzen, aus verschiedenen Winkeln angreifen und das Herz von Daniel Dubois aufessen. Nach sechs Runden wird Dubois depressiv sein, weil er seinen starken Schlag bei Usyk nicht landen kann. Sobald er das Ziel vor sich hat, verschwindet es und schlägt ihn aus einem anderen Winkel. Das ist frustrierend. Und wenn die Frustration zunimmt, wird Usyk schnelle Schläge mit harten Schlägen kombinieren. Ich sehe, dass der Kampf nach Runde 8 vorzeitig endet. Vielleicht durch einen Abbruch oder einen Technischen K.o.

Was macht Usyk im Ring so stark?

Eine seiner größten Stärken ist, dass er Runde für Runde an Tempo zulegt. Normal startet einer schnell in den ersten drei, vier Runden und baut dann ab. Usyk macht es andersherum. Nach der achten Runde blüht er auf. Er ist aufgewärmt, fühlt sich gut und greift an. In seinem zweiten Kampf gegen Joshua hat er eine schwere neunte Runde überlebt, kam in Runde 10 zurück und hat ihn fast zerstört, hat ihn bestraft.

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Ich glaube nicht, dass Dubois größere Vorteile hat als Joshua. Ich würde die beiden nicht vergleichen. Dubois hat nicht die Technik, die Joshua hat. Und Joshua ist ganz sicher kein besserer Techniker als Usyk. Es dreht sich alles um Fähigkeiten. Solange man die Fähigkeiten hat, ist es egal, wie groß man ist, wie schwer man ist. Wenn man weiß, wie man sein Ziel erreicht, wird man es erreichen.

Das Interview führte Martin Armbruster

Quelle: ntv.de

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