Bye-bye, Brady Wie aus der Nummer 199 die Nummer 1 wurde
02.02.2022, 10:46 Uhr
Eine Legende macht Schluss. Nach 22 Jahren und sieben Super-Bowl-Siegen. Tom Brady beendet seine Karriere. Er hat mehr erreicht in seinem Sport als jeder andere - und wollte trotzdem immer noch mehr. Die Welt verneigt sich vor dem Quarterback.
Wenn große Sportlerinnen oder Sportler ihre großen Karrieren beenden, kommt beim Blick in den Rückspiegel mitunter die Frage nach dem "was wäre wenn" auf. Was wäre, wenn der Talentsichter zum Beispiel nicht bei diesem oder jenen Turnier gewesen wäre? Wenn sich ein anderer, besserer Mitspieler nicht verletzt hätte? Oder, wie im Fall von Tom Brady: Was wäre gewesen, wenn der Starting Quarterback seines High-School-Teams in San Mateo/Kalifornien in der zehnten Klasse nicht aufgehört hätte, Football zu spielen?
Nun, die Sportgeschichte und die National Football League wären ganz sicher um eine Legende und unzählige unvergessliche Momente ärmer. Und die New England Patriots wären vielleicht immer noch der chronisch erfolglose Verein von der südwestlichen Bostoner Peripherie, der sie bis zum Jahr 2000 gewesen sind. Auf jeden Fall hätte es in diesen Tagen nicht so viele Elogen, Hommagen und Dankesworte von Fans, Mit- und Gegenspielern, Athletinnen und Athleten aus anderen Sportarten oder gar Promis gegeben.
Bradys Einfluss in Gänsehaut messbar
Die Welt verneigt sich vor Tom Brady. Bedankt sich für 22 Jahre Entertainment, Show, Spektakel. Brady sei der "größte Athlet in der langen, berühmten Geschichte des Bostoner Sports", schrieb die Tageszeitung "Boston Globe". In der "New York Times" heißt es: "Tom Bradys Einfluss war am besten in Gänsehaut zu messen". Dabei hatte Brady tatsächlich viele Zweifler. Vor allem, als die NFL im April 2000 die besten College-Spieler unter ihren 31 Vereinen aufteilte. "Man hatte uns im Glauben gelassen, dass er möglicherweise in der zweiten, wahrscheinlich in der dritten Runde gedraftet wird", sagt Vater Tom Brady Sr. in der Dokumentation "The Brady 6: Reise einer Legende, die niemand wollte!" Der Film handelt von den sechs Quarterbacks, die bei jenem Draft vor Brady gezogen wurden: Chad Pennington, Giovanni Carmazzi, Chris Redman, Tee Martin, Marc Bulger, Spergon Wynn.
Namen, die Brady nie vergessen wird. Die ihn immer angetrieben haben. Auch, wenn er manchmal eigentlich nicht trainieren wollte. Sich nur schwer motivieren konnte. Alles schmerzte. Und er sich trotzdem aufraffte. Chad Pennington! Giovanni Carmazzi! Chris Redman! Tee Martin! Marc Bulger! Spergon Wynn! Brady kennt nicht nur die Namen, sondern auch die dazugehörigen Werdegänge. Er weiß, dass Bulger bei den St. Louis Rams eine gute NFL-Karriere hatte, 96 Spiele in acht Jahren absolvierte. Und weiß ebenso, dass Carmazzi und Martin nicht ein einziges NFL-Spiel bestritten haben.
Brady war bei der Draft 2000 die Nummer 199 - und der siebte Quarterback - als die New England Patriots ihn erlösten. Doch er ist der einzige Spielmacher, der ein Superstar wurde. Brady hat nicht nur das Sextett überholt, sondern längst auch alle anderen Spielmacher. Es gibt keinen, der solche Statistiken aufweist wie er. Sieben Super Bowl-Siege - mehr als jeder Verein. Zehn Endspiele. 710 Touchdown-Pässe. Würfe über einen Raumgewinn von 97.569 Yards. 35 gewonnene Playoff-Partien.
Brady lässt TV-Legende schlecht aussehen
Je wichtiger das Spiel, desto besser war Brady. Vor allem in den Playoffs. Gleich in seinem ersten Super Bowl, 2002, bewies er Nervenstärke. Gegner St. Louis Rams war zwei Jahre zuvor Meister geworden und hatte aufgrund der beeindruckenden Offensive den Beinamen "biggest show on Turf" (die größte Show auf dem Rasen). Als die favorisierten Rams 97 Sekunden vor Spielende zum 17:17 ausglichen, meinte der legendäre Ex-Trainer John Madden in seiner Rolle als TV-Experte, dass New England "kein dummes Zeug" machen, sondern lieber die Zeit runterlaufen und sich auf die Verlängerung konzentrieren solle.
Doch Brady wollte keine extra Schicht, sondern die Meisterschaft. Nach drei erfolgreichen Pässen waren die Patriots in der Rams-Hälfte angekommen. "Der Typ ist echt cool", meinte Madden. Nach einem weiteren 23-Yard-Pass zum Mitspieler wurde er noch euphorischer. "Unglaublich." Als Brady sein Team so weit Richtung Rams-Endzone gebrachte hatte, dass Kicker Adam Vinatieri mit Ablauf der Spielzeit per Field Goal zum Sieg traf, brüllte Madden: "Ich habe eine Gänsehaut von dem, was Tom Brady gerade gezeigt hat."
In vier Jahren drei Meisterschaften
Es sollten viele weitere Gänsehaut-Momente folgen. Für Madden und Millionen andere Menschen. Trainer-Genie Bill Belichick erstellte die perfekten Spielstrategien, Brady setzte sie meisterlich um. Nach seiner vierten NFL-Saison war er schon dreimal Meister - und gerade mal 27 Jahre alt. Er hätte da bereits aufhören können - und wäre eine Legende gewesen. Oder nach dem vierten Super Bowl-Sieg. Diesem denkwürdigen 28:24 am 1. Februar 2015 gegen Titelverteidiger Seattle Seahawks, als New England einen Zehn-Punkte-Rückstand im Schlussviertel noch aufholte. Gegen die beste Abwehr der Liga. Aber Brady machte weiter. Er gewann zwei Jahre später seinen fünften Titel - sogar noch spektakulärer als gegen Seattle.
Im Finale von Houston hatte New England gegen die Atlanta Falcons 3:28 hinten gelegen - im dritten Viertel. Es folgte das größte Comeback der Super-Bowl-Geschichte. New England glich zum 28:28 aus. Erstmals musste ein Super-Bowl-Sieger in der Verlängerung ermittelt werden. Die Patriots gewannen den Münzwurf, entschieden sich für Ballbesitz - und jeder im Stadion wusste, was passieren würde. Diesen Brady, diese von ihm geleitete Offensive, die wie ein Güterzug in Höchstgeschwindigkeit auf die Falcons-Endzone zustürmte, konnte niemand mehr stoppen.
Doch selbst der 34:28-Triumph konnte Bradys Titelhunger nicht stillen. Chad Pennington! Giovanni Carmazzi! Chris Redman! Tee Martin! Marc Bulger! Spergon Wynn! Nach seinem sechsten Ring durch einen 13:3-Finalerfolg über die Los Angeles Rams reckte er 2019 als mittlerweile 41-Jähriger die Super-Bowl-Trophäe in den Abendhimmel von Atlanta. Ehefrau Giselle Bündchen küsste ihn innig auf dem Podium, Tochter Vivian lächelte in seinen Armen. In jedem Hollywood-Streifen wäre jetzt der Abspann gekommen. Doch Brady ist nicht Hollywood.
Mit Tampa sensationell zum Titel
Er schrieb ein letztes, ein noch verrückteres Kapitel. Nachdem ihm die Patriots keinen Zwei-Jahres-Vertrag geben wollten, verließ Brady im Frühjahr 2020 tatsächlich den Verein. Er ging zu den Tampa Bay Buccaneers, die bis dahin der Verein mit dem geringsten Prozentsatz an gewonnenen Spielen in den vier großen Profiligen Nordamerikas waren. Seinem Sog folgte sein langjähriger Patriots-Kumpel Rob Gronkowski, der extra für Brady seine Football-Rente beendete. Der Quarterback rekrutierte zudem Antonio Brown und Leonard Fournette. Gronkowski (zwei), Brown und Fournette erzielten im Super Bowl gegen Titelverteidiger Kansas City Chiefs die vier Touchdowns zum 31:9-Sieg.
Dass Brady nun aufhört, kommt nicht mehr ganz überraschend. Im August wird er 45 Jahre. So lange, meinte er einst, würde er gerne spielen wollen. Und nun solle endlich mal die Familie im Vordergrund stehen. Sportlich gesehen ergibt sein Karriere-Ende hingegen keinen Sinn. Denn Brady ist immer noch grandios. Er hat in dieser Saison die meisten Touchdown-Pässe verzeichnet (43) und mit seinen Würfen den größten Raumgewinn (5316 Yards) erzielt.
Er wird künftig fehlen, dieser Thomas Edward Patrick Brady. Andererseits hat er Land und Liga 22 Jahre lang alles gegeben. Hat Millionen Menschen Sonntag für Sonntag bestens unterhalten. Sie alle müssten sich eigentlich bei den Trainern und Managern bedanken, die beim Draft 2000 Chad Pennington, Giovanni Carmazzi, Chris Redman, Tee Martin, Marc Bulger und Spergon Wynn bevorzugt haben. Und sie sollten auch an Bradys ehemaligen Teamkollegen an der Serra High School in San Mateo denken. Man stelle sich vor, der Starting Quarterback hätte damals in der zehnten Klasse nicht mit dem Football aufgehört.
Quelle: ntv.de