
Beide spielen (noch) in Stuttgart: Führich und Undav.
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Die VfB-Stars Chris Führich und Deniz Undav legen einen unwahrscheinlichen Weg zur deutschen Fußball-Nationalmannschaft zurück. Dass sie nun bei der Heim-EM spielen, verdanken sie auch dem Rollenprinzip des Bundestrainers.
Als sportlich schon alle Fragen geklärt waren, erhoben sich in der 84. Minute die Zuschauerinnen und Zuschauer im Stuttgarter Stadion. Denn es gab gleich einen doppelt besonderen Moment auf dem Rasen zu beklatschen. Vom Feld ging Kapitän İlkay Gündoğan, der beim 2:0-Erfolg gegen Ungarn auch dem letzten Zweifler gezeigt hat, warum er für das Spiel des DFB-Teams so wichtig ist. Für ihn kam einer aufs Feld, der die Stadt seit dieser Saison seine Heimat nennt und anschließend minutenlang mit Sprechchören gefeiert wurde: Deniz Undav.
Im Trainerteam von Julian Nagelsmann war es schon länger ein Running Gag, mittlerweile ist es mehr als ein Witz geworden. Er selbst könne nicht darauf achten, verriet der Bundestrainer schon vor dem Ungarn-Spiel, aber die Assistenten Benjamin Glück und Sandro Wagner hätten einen guten Blick darauf: Wenn man schon eine Heim-Europameisterschaft spielt, dann sollen auch die Local Heroes eingewechselt werden. Erst war es Thomas Müller in München gegen Schottland, nun also Flügelwirbelwind Chris Führich und Mittelstürmer Undav in Stuttgart. Und Robin Koch dann in Frankfurt gegen die Schweiz am Sonntag? Es wird sich zeigen.
Die beiden VfB-Stars erzählen aber viel mehr als nur diese Randgeschichte. Dafür muss man aber etwas weiter ausholen: Sie stehen sinnbildlich für das Rollenprinzip, das Julian Nagelsmann im März etabliert hat. Es ist nicht bekannt, ob es eine Whatsapp-Gruppe gibt, in der sich alle Bundestrainerinnen und -trainer untereinander austauschen. Aber offenbar sprechen sie auch sportartenübergreifend miteinander. Nagelsmann hatte sich für das Rollenprinzip bei den deutschen Basketball-Weltmeistern inspirieren lassen. Trainer Gordon Herbert erklärte jüngst im "Spiegel", wie er das gemacht hat: Es brauche "Schweine", die die Drecksarbeit machen und "Rennpferde", die in den richtigen Momenten zaubern.
Inspiration beim Weltmeister
Nagelsmann hat sich von der Tier-Metapher verabschiedet - und die Idee angepasst. Im Kosmos des DFB-Teams entstanden so gleich mehrere Rollen. Es gibt es mit Müller einen, der mit allen kann, den "Connector". Vorne wirbeln mit Jamal Musiala und Florian Wirtz die beiden "Zauberer". Und was bei Herbert die "Schweine" sind, formuliert Nagelsmann deutlich freundlicher: Die "Worker" um Robert Andrich und dem nachnominierten Emre Can räumen vor der Abwehr ab.
Das klare Rollenprinzip beeinflusste den EM-Kader. Es bedeutet, dass nicht die 26 brillantesten Fußballer des Landes auf dem EM-Rasen stehen, sondern diejenigen, die gemeinsam die beste Mannschaft bilden. Und so kommt es, dass ein Mats Hummels und ein Leon Goretzka ihre Sommer für alles Mögliche nutzen können (Instagram-Storys aus dem Urlaub), aber nicht für Fußball im DFB-Team - auch, wenn sie es möglicherweise, gemessen an ihren Leistungen, verdient hätten.
Es ist die Schlussfolgerung des Rollenprinzips - und eine Erkenntnis des Basketball-Bundestrainers Herbert. Was er aus dem überraschenden WM-Triumph mitgenommen hat, schrieb er in einem Buch nieder. Das Trainerteam um Nagelsmann wollte davon schon vorab eine Kopie haben. "Darin erkläre ich unter anderem", verriet Herbert dem "Spiegel", "dass es für eine erfolgreiche Mannschaft nicht nur die besten Spieler, sondern auch jene braucht, die man auf die Auswechselbank setzen kann, ohne dass sie beleidigt sind."
"Dann kann eine Mannschaft schnell kaputtgehen"
Da schließt sich der Kreis. Am frühen Nachmittag sitzen Führich und Undav ausnahmsweise nicht auf der Auswechselbank, sondern im Rampenlicht. Genaugenommen auf dem Pult des Pressesaals im EM-Quartier. Der Gedanke liegt eigentlich nahe, dass diejenigen ohne Spielzeit nicht die beste Laune haben. Doch Führich und Undav vermitteln einen ganz anderen Eindruck, sie reden über alle möglichen Dinge: Weißwurst (mögen beide nicht), den Rasen im Frankfurter Stadion (mag Führich nicht, Undav ist es egal) und ihre Reservistenrollen (finden beide okay). "Natürlich ist es ein anderes Gefühl jetzt, weil man beim VfB gefühlt jetzt ein Jahr jedes Spiel gemacht hat", sagt Undav, "aber durch das Gespräch mit dem Bundestrainer hat jeder seine Rolle bekommen und akzeptiert und ordnet sich der Mannschaft unter."
Und, als hätte auch er schon eine Vorab-Kopie aus dem Buch des Basketball-Bundestrainers erhalten, fährt er weiter fort. "Bei so einem Turnier ist es nicht nur wichtig, die ersten elf Spieler zu sein, sondern auch als ganze Mannschaft zu funktionieren", sagt Undav. Denn: "Wenn du drei, vier Leute hast, die sauer und enttäuscht sind, dass sie nicht spielen, kann so eine Mannschaft auch schnell kaputtgehen. Deswegen akzeptiere ich das, jeder gibt Gas und wenn die Chance da ist, dann müssen wir da sein."
Für Nagelsmann ist das dankbar, dass auch die zweite Reihe so überraschend glücklich ist. "Wenn man mal überlegt, wo wir vor ein Jahr waren und wo wir jetzt sind: Das ist schon etwas Besonderes und für jede Minute, die wir auf dem Platz stehen dürfen, freuen wir uns", sagt Führich, der als Ruhrpott-Robben sinnbildlich für den Stuttgarter Aufschwung steht - und sich mit seinen Tempodribblings auch auf die Wunschlisten des BVB und des FC Bayern gespielt hat. Der robuste Instinktfußballer Undav dagegen nahm den Weg über unterklassige Klubs in den Profifußball. Irgendwann entdeckten ihn die Statistiknerds von Union St. Gilloise. Es verschlug ihn erst nach Brighton, von dort leihweise zum Vizemeister. Wie es nach dem Sommer weitergeht, ist bei beiden noch unklar. Er habe 290 Mal den Wunsch hinterlegt, in Cannstatt zu bleiben, erzählt Undav.
Dass die beiden so locker mit den Journalistinnen und Journalisten plaudern, zeigt, dass Nagelsmanns Kaderplan bislang voll aufgeht. Die eingewechselten Niclas Füllkrug und Emre Can treffen beide beim 5:1-Auftakt gegen Schottland, der junge Maximilian Beier sorgt in der EM-Generalprobe gegen die Ukraine für mächtig Wind. "Wir haben geile Typen auf der Bank", sagt Undav, "jeder weiß, worum es geht." Gleichwohl ist es natürlich deutlich einfacher, wenn man die ersten beiden EM-Spiele mit 7:1 Toren gewinnt und wenn das 2:0 gegen Ungarn bedeutet, dass das DFB-Team das erste Turnierspiel ohne Gegentor seit 2016 absolviert hat.
Aber, schadet zu viel Harmonie nicht dem Erfolg? Wenn alle sich lieb haben und keiner den anderen mehr herausfordert? "Der Konkurrenzkampf ist auch da, aber nur im Training", beschwichtigt Undav. Dort wolle sich dann auch jeder zeigen und beweisen. "Nur so kommst du zu dieser Leistung." Führich pflichtet ihm bei: "In erster Linie müssen wir dafür sorgen, dass wir bereit sind, wenn wir gebraucht werden." Wenn dann der Moment kommt, wenn sie gebraucht werden. "Deswegen funktioniert das aktuell so gut, weil wir als Mannschaft agieren, von 11 bis x, dabei bleiben wir auch dabei." Wenn alles glattläuft, spielt das DFB-Team im Viertelfinale wieder in Stuttgart. Spätestens dann werden sie wieder eingewechselt.
Quelle: ntv.de