Havertz trumpft frech auf Nagelsmanns Ignoranz zahlt sich voll aus

Kai Havertz genießt das Vertrauen von Bundestrainer Julian Nagelsmann. Bislang darf der Arsenal-Star jede Partie der Heim-EM von Beginn an spielen, hat mit Niclas Füllkrug aber einen starken Herausforderer. Gegen Dänemark zeigt Havertz seine Stärken - aber auch seine Schwächen.

In der 80. Spielminute wird es für Rasmus Höjlund dann fast schon peinlich. In der Schlussphase des EM-Achtelfinales versuchen seine Dänen irgendwie noch den 1:2-Anschlusstreffer zu machen. Doch tief in der Hälfte des DFB-Teams verliert Höjlund den Ball. Der Däne spurtet dem Spielgerät hinterher, rutscht dabei aber aus. Und dann steht da Kai Havertz. Der DFB-Star macht das Coolste, was man wohl machen kann. Mit dem ersten Kontakt lupft er den freien Ball über den fallenden Höjlund. Mit dem zweiten spielt er ihn zu Jamal Musiala, der sich auf den Weg zum Kontern macht.

Das Freche in der Aktion, der schnelle Pass nach vorne und das mit nur zwei Kontakten: Allein diese Szene beschreibt den Fußballer Havertz und seine Rolle im DFB-Team. Dabei bekleidet er, zumindest was die Debatten angeht, eine der schwierigsten Positionen in der Nationalelf. Gäbe es einen Bachelorstudiengang für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, dann wäre der Mittelstürmer wohl ein eigenes Modul: mit Seminaren in klassischer und falscher Neun. Über all diese Fragen lässt sich schon seit Jahren vortrefflich diskutieren. Gerade bei großen Turnieren ist die Chancenverwertung ein großes Thema.

Der Superjoker muss sich als Bank-Helfer gedulden

Auch in diesem DFB-Kader. In der Mannschaft von Bundestrainer Julian Nagelsmann, in der es nicht wirklich viele Aufstellungsdebatten gibt, war es unter der Woche noch eine der spannenderen Fragen: Wer fängt gegen Dänemark an? Der Fanliebling Niclas Füllkrug oder doch Kai Havertz? Nagelsmann verweigerte auf der Pressekonferenz vor dem Spiel noch die Aussage. Die Debatten ignoriert er, sagte er. Die Entscheidung, wer spielt, treffen er und sein Trainerteam.

Der Bundestrainer reichte seinen Entschluss einen Tag später nach, eine Stunde vor Spielbeginn. Es sollte zum vierten Mal nacheinander Havertz sein. Und das ausgerechnet in Dortmund, der Stadt von Füllkrug. Wo er normalerweise bei Borussia Dortmund die Gelbe Wand im Westfalenstadion beben lässt, wo sie beim Fanmarsch zum Spielort vor allem das Trikot mit der Nummer neun tragen.

Aus Sicht des Bundestrainers ist es logisch: Superjoker Füllkrug füllt seine Rolle eben "super" aus. Mit vier Treffern nach einer Einwechslung bei großen Turnieren ist er schon jetzt der beste DFB-Joker der Geschichte. Und auch er scheint seine Rolle akzeptiert zu haben. Gegen die Schweiz und gegen Dänemark kann man den 31-Jährigen dabei beobachten, wie er seinen Mitspielern in der ersten Hälfte Trinkflaschen reicht. Später wurde er dann eingewechselt. Zumal: Würde Bundestrainer Nagelsmann schon von Anfang an mit Füllkrug spielen, würde er sich diesen Jokerqualitäten berauben. Bislang funktioniert das ja auch so. Zwei Tore hat er so bereits erzielt.

Vertrauen von Nagelsmann

Schon in einem RTL-Interview am Freitag deutete Nagelsmann seine Entscheidung an. Den Wunsch nach Füllkrug finde er nachvollziehbar, sagte Nagelsmann. Aber in der internen Bewertung sei Havertz deutlich höher angesiedelt als in der Öffentlichkeit. "Er hat in sehr vielen Spielen einen klaren Job, der damit einhergeht, dass er nicht viele Ballaktionen hat, weil er Raum für andere kreieren sollte. Das hat er herausragend gut gemacht", sagte Nagelsmann.

Aber sollte ein Angreifer nicht in erster Linie Treffer erzielen? "Es geht für den Stürmer nicht immer nur darum, ein Tor zu machen", widerspricht Nagelsmann. "Wenn man eingewechselt wird und der Gegner schon müde ist, hat man vielleicht den einen oder anderen Raum mehr. 'Fülle' hat eine gute Quote, aber Kai ist ein bedeutender Spieler für uns." Tatsächlich weist Füllkrug eine eindrucksvolle Quote von 13 Treffern aus 20 Spielen im DFB-Dress vor.

Und im Spiel gegen Dänemark wird sichtbar, wieso dennoch Havertz spielt. Immer wieder weicht er auf die Flügel aus, ist eingebunden in die technisch anspruchsvollen Kombinationen mit Kapitän İlkay Gündoğan und Zauberer Jamal Musiala. Zudem ist der 25-Jährige auch Teil eines offensichtlich trainierten Spielzugs mit Abwehrboss Antonio Rüdiger, der immer wieder lange Bälle auf Havertz schlägt. In der 59. Minute lässt er mit einer Weltklasse-Ballmitnahme beide dänischen Innenverteidiger stehen.

Der lange Weg zum Neuner

Und dann ist da ebendiese Coolness und Abgezocktheit: Trotz all der Debatten schnappt er sich den Handelfmeter in der 53. Minute. Havertz verwandelt ihn nicht nur, er setzt ein Statement. Die Trippelschritte, das Abstoppen: Selbst Manuel Neuer, der nun wirklich nicht fürs Schwärmen bekannt ist, ist begeistert. "Ich weiß, wie stark der Kai schießt. Das ist sehr schwer mit dieser Verzögerung und mit dieser Technik und Taktik, so wie der Kai den Anlauf erstmal macht und auch der Präzision, wie er abschließen kann. Das ist außergewöhnlich", sagte der Torwart. Er trainiere das viel, sagte Havertz. "Ich schieße gerne Elfmeter, das macht mir Spaß. Ich versuche, mir den Druck zu nehmen, den Moment zu genießen und heute hat das wieder geklappt."

All diese Aktionen gleichen die Makel von Havertz aus. Anders als Füllkrug wirkt er manchmal etwas reservierter, bisweilen auch lustlos, was seine Auftritte überschattet - wenn man sie nur im TV verfolgt. Im Stadion lässt sich schnell erkennen, dass daran nichts dran ist. Aber es gibt auch andere Probleme. Er ist zwar 1,93 Meter groß, aber durch seine Schlaksigkeit nicht der optimale Zielspieler für Flanken. Das merkt man daran, dass Linksverteidiger David Raum zwar fleißig Bälle in den Strafraum schlägt, diese aber nur selten abgenommen werden. Ein Problem hat er, zumindest im DFB-Dress, noch mit der Effektivität. Seine beiden EM-Tore hat er per Elfmeter erzielt.

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Das liegt vielleicht auch daran, dass Havertz kein klassischer, gelernter Mittelstürmer ist. Er kann fast alle Positionen in der Offensive bespielen, ihm fehlt aber dieser Torinstinkt, den einen Füllkrug auszeichnet. Der FC Arsenal holte ihn im vergangenen Sommer für umgerechnet 75 Millionen Euro. In der ersten Saisonhälfte drohte das Investment zum Flop zu werden, erst in der zweiten Saisonhälfte fand er in die Spur. In der Premier League hat er 14 Tore geschossen und 7 Vorlagen gegeben, im Saisonendspurt ist er zwischenzeitlich der formstärkste Spieler der Liga. Havertz avancierte zum Publikumsliebling beim englischen Vizemeister.

Nur, diese verdammte Chancenverwertung. Auch gegen Dänemark hat Havertz erneut mehrere Möglichkeiten per Kopf, vor allem in der ersten Hälfte scheitert er immer wieder an Torwart Kaspar Schmeichel. Kurz vor dem Abpfiff, nach dem letzten Konter, steht er auf der Torauslinie. Schon wieder hatte der Torwart Schmeichel irgendwie einen Fuß in einen seiner Abschlüsse dazwischen bekommen. Havertz stützt die Hände auf die Knie, dann hockt er sich hin. Er weiß, einen Makel hat seine Turnierbilanz noch immer: Ihm fehlt noch ein Tor aus dem Spiel heraus. Vielleicht ja dann im Viertelfinale. Es wäre sein fünfter Treffer, er hätte damit zu den deutschen EM-Rekordtorschützen Mario Gomez und Jürgen Klinsmann aufgeschlossen.

Quelle: ntv.de

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