Wut-Analyse mit Ewald Lienen "Diese Perversion der Regeln zerstört den Fußball"

Große Euphorie in Dortmund: Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ringt Dänemark (2:0) in einem wilden Achtelfinale nieder und setzt die Reise bei der Heim-EM fort. Dazu braucht es aber auch den VAR, der in zwei wichtigen Situationen für Deutschland entscheidet. ntv.de-Experte Ewald Lienen hat eine richtige Krawatte, das liegt aber nicht an den Spielern. Er fordert gravierende Regeländerungen. Und er holt im Interview etwas nach, das er nach dem Spiel gegen die Schweiz zum Ende der Gruppenphase gänzlich unterschlagen hat.

ntv.de: Hallo Herr Lienen, wie geht's Ihnen?

Ewald Lienen: Ja, leck mich … jetzt geht es hier so richtig rund. Das, was ihr da in Dortmund erlebt habt, ist jetzt bei uns angekommen. Hier waren Blitze, das sah aus wie eine Atomexplosion!

Also waren Sie auch voll einverstanden mit der Spielunterbrechung?

Ja, klar, das war doch viel zu gefährlich! Auch hier übrigens gerade, dabei habe ich jetzt von meiner Frau das lila Trikot bekommen, was mir super gefällt, und eigentlich wollte ich damit jetzt 'ne Ehrenrunde laufen!

Oh, das Spiel hat Ihnen so gut gefallen, dass eine Ehrenrunde drin gewesen wäre?

Na, das war ein absolut verdientes Weiterkommen, aber mir fällt es trotzdem schwer, mich wirklich zu freuen. Denn es gab einfach zu viele Dinge, die mir nicht gefallen haben, aber nicht von den Teams!

Sondern vom Schiedsrichter?

Nein! Von den Regeln, mit denen wir es zu tun haben. Das erste Tor von Nico Schlotterbeck muss man nicht unbedingt abpfeifen, aber okay. Die Entscheidung gegen das zweite Tor, das der Dänen, ist mehr als grenzwertig, der Spieler stand ja vielleicht gerade mal einen Zentimeter im Abseits. Normalerweise siehst du ja in der Wiederholung irgendeinen Körperbereich, der übersteht, das konnte man doch gar nicht sehen. Vielleicht war es der Zeh? Aber was pfeifst du da eigentlich ab, einen Vorteil? Wir legen Situationen, die du in den vergangenen 20 Jahren niemals mit dem bloßen Auge gesehen hättest, in die Hand von technischen Hilfsmitteln. Wir haben es da nicht mehr mit einem sinnvollen Regelwerk zu tun! Ich sage das noch mal: Dieser Pfiff macht keinen Sinn, da ist kein Vorteil, da stand der Abwehrspieler einfach nur schlecht! Aber der Höhepunkt ist für mich der Handelfmeter.

Oje, jetzt bin ich gespannt …

Es tut mir wirklich leid, aber da Elfmeter wegen Handspiel zu geben, ist einfach nur noch lächerlich. Durch die Berührung verändert der Ball vielleicht um fünf Zentimeter seine Flugbahn. Die Flanke wäre aber ohnehin nicht angekommen. Das war keine Absicht, er will den Ball nicht mit der Hand spielen, er verhindert kein Tor! Es hat doch einen Grund gegeben, warum wir so etwas jahrzehntelang nicht gepfiffen haben! Wer zum Teufel ist denn eigentlich auf diese Idee gekommen? Regeln, die keinen Sinn machen, gehören abgeschafft. Alle, die ich kenne und die mit Fußball etwas zu tun haben, sagen: Warum halten wir diesen Blödsinn eigentlich noch aufrecht?

Ja, warum eigentlich?

Ich weiß es auch nicht. Vielleicht gibt es irgendwo einen Fußball-Gott mit dem Namen IFAB (Anmerk. d. Red.: internationales Gremium, das Änderungen der Fußballregeln berät und beschließt), der uns alle manipuliert? So wird der Fußball, da wiederhole ich mich, zerstört. Die schönen Angriffe, die wir hinten heraus hatten, die hängen damit zusammen, dass wir in Führung gehen. Das ist natürlich schön, das öffnet dann die Räume und du hast plötzlich Platz gegen eine tief stehende Abwehr. Aber diese fragwürdigen bis lächerlichen Entscheidungen, die drängen immer mehr Spiele in eine andere Richtung. Ich kann mich darüber wirklich nicht freuen!

Kommen wir zurück zum Spiel. Wie hat es Ihnen gefallen?

Ach, es war irgendwie zerrissen, auch durch diese Wassermassen vom Dach des Stadions. Aber da kannst du einfach nix machen, selbst wenn da oben Ablaufrinnen sind. Aber wissen Sie was, Herr Nordmann? Ich habe mal bei Hannover 96 gearbeitet. Da war das Dach aus ästhetischen Gründen zum Spielfeld nach oben gebeugt. Da ist das Wasser nicht auf dem Feld, sondern auf den Tribünen, auch auf den VIP-Tribünen, gelandet.

Ich versuche es noch mal anders. Ein empörter Leser hat nach dem Schweiz-Interview zuletzt geschrieben, dass wir gar nichts Positives berichtet hatten. Das möchte ich gerne nachholen. Also: Was war gut?

Was mir wirklich gefällt, dass diese Mannschaft bereit ist, alles zu geben. Klar kann man jetzt sagen, das ist eh immer die Grundvoraussetzung. Aber schauen wir uns Italien heute an, da war das eben nicht der Fall. Diese Bereitschaft finde ich absolut super! Und mir gefällt es, dass wir Innenverteidiger haben, auch wenn Jonathan Tah heute nicht dabei war, die richtig Spaß daran haben, zu retten und zu klären. Genau das brauchst du. Wir haben ja 10 Jahre keine Topleute mehr ausgebildet, die nur verteidigen wollen. Wir waren ja dem Wahn erlegen, der uns auf eine falsche Spur gebracht hat, dass die Innenverteidiger und die Sechser den Spielaufbau können müssen. Das können Antonio Rüdiger und Schlotterbeck auch, sie haben tolle lange, diagonal und steile Bälle gespielt, vor allem Schlotterbeck vor dem 2:0. Aber sie haben eben vor allem einen Riesenspaß am Zweikampf. Auch wenn es irgendwie lustig aussieht, wie Rüdiger sich am Boden so abfeiert, als hätte er einen Hattrick erzielt. Aber diese Emotionalität ist toll, diese Leidenschaft brauchst du. Das Klären ist immer dein erster Job.

Kommen wir zu Ihrem Lieblingsthema: Flügelstürmer! Heute hat Julian Nagelsmann mit Leroy Sané endlich Ihren Wunsch erhöht. Zufrieden?

Ja, ich finde es richtig, dass wir wenigstens mit einem Flügelstürmer gespielt haben. Aber was man leider gerade sehen kann, ist, dass weder Leroy noch Jamal in ihrer besten Phase sind. Woran das liegt, weiß ich nicht. Vielleicht am Saisonausklang mit dem FC Bayern? Ich habe in dieser Spielzeit so viele andere Spiele von den beiden gesehen. Etwa von Musiala, auch im DFB-Team. Er gefällt mir immer am besten, wenn er sich vor allem im Mittelfeld schnell vom Ball trennt. Er ist dann nämlich noch schneller, wenn er den Ball laufen lässt. So hat er auch heute wieder viele Bälle verloren und unsinnige Dribblings gemacht. Du merkst sowohl Jamal als auch Leroy an, dass ihnen das letzte Timing und die letzte Sicherheit im Dribbling fehlt. Sie verhaspeln sich dann öfter mal, dabei gehören sie zu den besten Spielern in Europa. Und trotzdem fand ich es richtig, dass Leroy gespielt hat.

Toni Kroos war nach den starken ersten 15 Minuten des DFB-Teams auch deutlich weniger präsent. Er wirkte, wie schon gegen die Schweiz, aus dem Spiel genommen.

Das höre ich immer wieder. Aber ich sehe das nicht so. Toni lebt von den Seitenwechseln, von den Verlagerungen. Er lebt von Leuten, die auf der Seite in die Tiefe gehen. Aber ich will Ihre Beobachtung auch nicht in Abrede stellen! Aber es ist eben so, er ist nicht der Typ, der gegen eine tief stehende Abwehr einfach so durchmarschiert, Leute ausspielt und sensationelle Steckpässe anbringt. Auch wenn er das in der Champions League auf Vinicius Junior gegen den FC Bayern mal gemacht hat. Aber diese Seitenwechsel kann ich nur machen, wenn die Positionen richtig besetzt sind. Links vorn ist keiner, weil Musiala in die Mitte zieht. Auch Sané ist häufiger nach innen gezogen, dann stand Joshua Kimmich außen, aber eher auf Höhe der Mittellinie. Für solche Bälle brauche ich Kroos dann nicht. Seine Rolle wird größer, wenn die Positionen mit hohen Flügen gut besetzt sind. Wenn die Mannschaft auf einer Seite spielt, dann Kroos einsetzt und er schnell seine präzisen Bälle anbringen kann. Das habe ich heute auch ein paarmal gesehen! Aber ich muss auch einmal die Dänen loben!

Deutschland - Dänemark 2:0 (0:0)

Tore: 1:0 Havertz (53., Handelfmeter nach Videobeweis), 2:0 Musiala (68.)
Deutschland: Neuer - Kimmich, Schlotterbeck, Rüdiger, Raum (ab 81. Henrichs) - Andrich (ab 64. Can), Kroos - Musiala (ab 81. Wirtz), Gündoğan (ab 64. Füllkrug), Sané (ab 88. Anton), - Havertz - Trainer: Nagelsmann
Dänemark: Schmeichel - Andersen, Vestergaard, Christensen (ab 81. Bruun Larsen) - Bah (ab 81. Kristiansen), Delaney (ab 69. Nørgaard), Højbjerg, Maehle - Skov Olsen (ab 69. Poulsen), Eriksen - Höjlund (ab 81. Wind) - Trainer: Hjulmand
Schiedsricher: Michael Oliver (England)
Gelbe Karten: Nagelsmann - Andersen, Bah, Maehle (2)
Zuschauer: 62.000 (ausverkauft) in Dortmund

Nur zu, sehr gerne!

Sie haben das in der Abwehr sehr gut gemacht. Sie haben richtig Monster hinten drin, dann hatten sie zwei gute Außenverteidiger und auch die Sechser standen gut. Da ist es sehr schwer, durchzukommen. Ich fand, Gündoğan hat das heute gut gemacht. Er hat sich schnell bewegt und sich schnell vom Ball getrennt. Auch Kai Havertz hatte viele gute Aktionen und hat viele Wege angeboten.

Hat Havertz damit die Stürmerdiskussion beendet?

Für mich ist das überhaupt keine Diskussion, tut mir leid. Ich bin da zu 100 Prozent bei Julian. Es ist absolut richtig, so zu spielen. Lücke (Anmerk. d. Red.: Niclas Füllkrug) ist ein überragender Typ, aber gegen eine tiefe Abwehr ist er nicht so wertvoll wie Havertz. Du kannst ihn nicht in ein schnelles, kreatives und verwirrendes Passspiel einbeziehen. Aber das weiß er auch selbst! Havertz ist dafür prädestiniert und auch für den Fußball, den Julian spielen lassen will.

Gibt es noch kritische Töne?

Ja, zum einen muss ich Kimmich einmal kritisieren. Es ist eine Superidee, den Gegenspieler von Schlotterbeck vor dem ersten Tor zu blocken, aber nicht so, dass es die ganze Welt sieht. Du kannst ihn nicht mit offenen Armen in Empfang nehmen. Da linst du besser über die Schulter und gehst wie zufällig in den Laufweg. Das sieht kein Schiedsrichter der Welt, weil es eben nicht offensichtlich ist!

Und was noch?

Was mir vor allem in der ersten Halbzeit aufgefallen ist: Zwischen den Linien waren die Jungs nicht eng genug drauf. Da standen wir manchmal sehr locker. Die Dänen konnten ihre Leute anspielen und die konnten sich drehen. Daraus sind Chancen entstanden. Da müssen wir schneller umschalten, enger zusammen sein. Wenn sich jemand hinter den defensiven Mittelfeldspielern frei stehlen kann, dann stimmt etwas nicht. Das sind die Zwischenräume zu groß oder jemand hat nicht aufgepasst. Das ist aber etwas, dass du gut planen und immer wieder anwenden kannst. Da geht es um Abstimmung, Konzentration und Leidenschaft.

Sind wir denn jetzt etwas schlauer, was die Titeltauglichkeit des DFB-Teams angeht?

Tja, das weiß ich auch nicht. Lassen Sie uns schauen, was die anderen Mannschaften wie England jetzt zeigen. Was ich bislang gesehen haben, müssen wir uns hinter den großen Teams nicht verstecken. Aber ich bin bei einigen Teams auch ratlos. Wie England oder auch Italien. Sie spielen ohne die Euphorie von Österreich, der Schweiz, Georgien. Vielleicht sind die Spieler von den Topvereinen müde, vielleicht haben sie sich an diesen pragmatischen Ansatz gewöhnt, dass es in so einem Turnier einfach nur ums Gewinnen geht. Obwohl ich das von den Italienern heute gar nicht gesehen habe!

Was haben Sie denn von Italien gesehen?

Nichts! Das war das Schwächste, was ich in den letzten 20 Jahren von ihnen gesehen haben. Sie haben offenbar keine Generation mehr, die den Fußball dominieren kann. Was eh schon komisch ist, dass sie aus einem Land kommen, dass so viel Lebensfreude ausstrahlt und sie selbst die Meister der Verteidigung sind. Aber vielleicht waren die Schweizer auch so gut. Die haben gespielt wie Bayer Leverkusen. Also, was der Granit Xhaka da macht, diese tolle dominante Rolle, das ist schon super. Aber die Italiener wollten nicht, nicht mal den Ball. Ich kann das nur entschuldigen, wenn sie hinter den Kulissen verabredet haben, für diese Regierung (Anmerkung d. Red.: Die als postfaschistsich eingestufte Fratelli d'Italia) nicht den Titel verteidigen zu wollen.

Aber noch mal zu uns: Wenn die Mannschaft in Führung geht und sicher steht, dann kann sie gegen jeden Gegner bestehen. Weil wir dann überragende Konterchancen bekommen und dafür Topspieler haben!

Mit Ewald Lienen sprach Tobias Nordmann

Quelle: ntv.de

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