Rekord-Teenie trifft traumhaft "Unersättliche" spanische Maschine frisst auch Mbappé
10.07.2024, 07:07 UhrErst der Sieg gegen das DFB-Team, nun gegen Frankreich: Die spanische Fußball-Nationalmannschaft steht im Finale der Europameisterschaft. Dort warten entweder die Niederlande oder England. Aber ist das am Ende nicht egal? Denn: Wer soll dieses Team besiegen?
Es klingt fast schon bedrohlich, was der spanische Trainer Luis de la Fuente auf der Pressekonferenz sagte. Natürlich ist er voller Lobes für seine Elf, die gerade den Einzug ins Finale der Fußball-Europameisterschaft geschafft hat - mit einem spektakulären 2:1 über Frankreich. "Unersättlich" sei die spanische Mannschaft, sagte er, bereit alles zu opfern, um sich weiter zu verbessern. Er sei einfach froh, "26 Fußballgenies" anzuleiten, ihnen gehört alles Lob, nicht ihm, sagte er.
Tatsächlich ist es auch beängstigend gut, was seine "Fußballgenies" zuvor auf dem Rasen des Münchner Stadions gezaubert haben. Wie etwa in der 21. Minute, als auf den Tribünen kollektiv der Atem angehalten wurde: Da legte sich Spaniens Lamine Yamal, der 16-Jährige (!), den Ball vom rechten auf den linken Fuß und zog einfach mal ab. Aus 25 Metern senkte sich der Ball im Bogen in das französische Tor und tuschierte dabei noch den Innenpfosten. Unhaltbar. Wunderschön. Ein Tor, das man einrahmen und an die Wand hängen möchte.
Und es war immens wichtig: Denn plötzlich stand es 1:1-Remis im Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft. Es war der Startschuss zu jenen fünf Minuten, in denen der Vize-Weltmeister das Spiel verlor. Die Franzosen hatten schon früh ihren eigenen Bann gebrochen. Superstar Kylian Mbappé kam in der 9. Minute zum Flanken, PSG-Angreifer Randal Kolo Muani vollendete per Kopf. Endlich ein eigenes Tor aus dem Spiel, das erste in diesem Turnier - und das erst im EM-Halbfinale.
Tore: 0:1 Kolo Muani (9.), 1:1 Yamal (21.), 2:1 Olmo (25.)
Spanien: Simón - Navas (58. Vivian), Nacho, Laporte, Cucurella - Rodri, Fabián Ruiz - Yamal (90. Zubimendi), Olmo (76. Merino), Williams (90. Torres) - Morata (76. Oyarzabal). - Trainer: De La Fuente
Frankreich: Maignan - Koundé, Upamecano, Saliba, Hernández - Tchouaméni, Kanté (62. Barcola), Rabiot (62. Camavinga) - Dembélé (79. Giroud), Kolo Muani (63. Griezmann), Mbappé. - Trainer: Deschamps
Schiedsrichter: Slavko Vinčić (Slowenien)
Gelbe Karten: Navas, Yamal - Tchouaméni (2), Camavinga
Zuschauer: 66.000 (ausverkauft) in München
Doch Frankreich hat noch weniger Chancen als das DFB-Team im Viertelfinale gegen diese spanische Maschine, die sich auch nicht durch den frühen Gegentreffer hat schocken lassen. Erst Yamals Traumtor, die zweite Antwort kam vier Minuten später: Der Noch-Leipziger Dani Olmo brauchte im französischen Strafraum nur drei Kontakte, um einen abgeprallten Ball nicht nur zu kontrollieren, sondern so gefährlich aufs Tor zu bringen, dass Jules Koundé in den eigenen Kasten klärt. Nach dem 2:1 kam nicht wirklich das Gefühl auf, Frankreich könnte das Ergebnis noch drehen.
Das "Böse" verliert seinen Schrecken
Der britische "Guardian" hatte das EM-Halbfinale im Vorfeld zur Schlacht zwischen "Gut und Böse" stilisiert. Die Guten, das waren die Spanier, die den Menschen, die das Spiel sehen, mit dem Ball etwas bieten wollen. Das Böse dagegen waren die Franzosen, die sich trotz ihrer offensiven Superstars (Mbappé, Antoine Griezmann, Ousmane Dembélé) in der Defensive verschanzten, schrecklich minimalistisch spielten und versuchten, sich zum Titel zu langweilen. Bislang hatte das funktioniert: 2018 wurden sie so Weltmeister, 2022 schafften sie es ins WM-Finale.
Nur hatte das "Böse" diesmal seinen Schrecken (die Effizienz) auch im EM-Halbfinale nicht wiedergefunden. Die Franzosen machten bislang aus ihren Chancen überraschend wenig Tore, anders als das früher der Fall war. Auch Trainer Deschamps beklagte das wieder nach dem Spiel. Er vermutete eine mentale Blockade beim Vize-Weltmeister. Schließlich hatten in der Gruppenphase die Erfolgserlebnisse gefehlt, erklärte der Trainer. Der erste Treffer aus dem Spiel fiel ja erst im EM-Halbfinale, davor trafen jeweils ein Österreicher und ein Belgier ins eigene Tor oder Mbappé per Elfmeter.
Ohnehin: Mbappé. Auch an diesem drückend warmen Abend im Münchner Stadion gab er ein Rätsel auf. Endlich hatte der französische Superstar freien Blick auf das, was um ihn herum geschieht. Er durfte seine Maske ablegen, die er nach dem Nasenbeinbruch im Österreich-Spiel trug. Kolo Muani scherzte unter der Woche noch, dass man damit praktisch nichts sehen könne. Doch auch wieder mit voller Sicht war Mbappé kein großer Faktor. Gegen den 38-jährigen Jesus Navas konnte er nicht gefährlich werden, kurz vor Schluss hatte er die entscheidende Schusschance, verzog aber übers Tor.
Der "Computer" lenkt, der Teenie lacht
Derweil hat Spanien und seine "26 Fußballgenies" allein in diesem Spiel und in dem gegen das DFB-Team praktisch jeden Punkt auf der Liste, den es für einen Titelfavoriten braucht, abgehakt: Traumtore: Check. Kopfballtore nach Flanken: Check. Ganz späte Tore, die den Gastgeber rauswerfen: Check. Lange Ballbesitzphasen, die die eigenen Fans jedes Zuspiel feiern lassen: Check. Schnelle Konter über die beiden Flügelstürmer Nico Williams und Yamal: Check. Eine stabile Verteidigung, die spanische Journalisten auf der Pressetribüne ein "Muy bien" hauchen lässt: Check. Von den ständigen, eines EM-Gastgebers unwürdigen, Pfiffen gegen Linksverteidiger Marc Cucurella nicht aus der Ruhe bringen lassen: Check.
Es ist das neue, weiterentwickelte Spanien. Anders als früher, bei den letzten zwei der drei EM-Titel, will es den Ball nicht mehr ins Tor tragen, sondern auch mal aus der zweiten Reihe abziehen. Oder einen Konter schnell zu Ende spielen, statt ihn in eine lange Ballbesitzphase zu verwandeln. De la Fuente sagte, er sei weniger überrascht als die restliche Öffentlichkeit. "Wir wussten um unsere Rohdiamanten", sagte er. "Ich kenne diese Fußballer und ihre Geschichten und ich bin mir sicher, dass sie noch mehr geben können."
Die Sache an diesem Team ist jedoch, dass darunter auch noch das ballverliebte Spanien schlummert. Nämlich rund um Mittelfeld-"Computer" Rodri, wie de la Fuente den Man-City-Star taufte, der alles steuert. In der 89. Minute bekam Rodri den Ball tief in der eigenen Hälfte, er machte das Spiel zunächst schnell - und dann wieder langsam. Denn: Er könnte Flügelstürmer Williams steil schicken, doch entschied sich für die sichere Variante: den Ball quer spielen und halten. Daraus entwickelte sich eine spanische Passstafette, die erst der eingewechselte Eduardo Camavinga mit einem ungeschickten Foul stoppen konnte. Allein diese Minute hat Frankreich weitere Nerven gekostet.
Es waren Szenen wie diese, die Spanien ins EM-Finale gebracht hat - und eben der Rekord-Teenie Yamal mit seinem Traumtor, der jüngste Torschütze der EM-Geschichte. Bei der ganzen Aufregung um ihn und sein Alter vergisst man gerne, wie viel Freude er schon als Fußballer macht: Immer wieder versucht er seine Gegenspieler zu tunneln, immer wieder sorgt er für kleine "Uhhh"-Momente im Stadion, wenn er etwa französische Abwehrspieler überlupft. Am Samstag wird der Barça-Star erst 17 Jahre alt. Als wäre das nicht verrückt genug: Als er geboren wurde, war Rechtsverteidiger Navas schon vier Jahre lang Profi.
Yamal kommt nach de la Fuente in den Pressesaal, das breite Grinsen zeigt seine Zahnspange, vor ihm hat er die "Player of the Match"-Trophäe aufgebaut. Er erzählt, wie stolz und überglücklich er ist. Gegen wen er im Finale am liebsten spielen würde? Die Niederlande oder England? Ihm sei das egal, sagt er. Wichtig war ihm, seinen Geburtstag in Deutschland zu feiern. Das hat er geschafft.
Quelle: ntv.de