Fußball-WM

100-Millionen-Mann vernascht Lionel Messi zertrümmert die Last der Geschichte

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Kroatiens Josko Gvardiol hatte gegen Messi keine Chance.

Kroatiens Josko Gvardiol hatte gegen Messi keine Chance.

(Foto: IMAGO/Ulmer/Teamfoto)

Matthäus-Rekord geschnappt, Argentiniens Tor-Bestmarke getoppt: Lionel Messi sorgt im WM-Halbfinale für eine Show. Dabei schleicht er lange Zeit nur über den Platz. Alles ein gewiefter Plan - um das eigene Erbe endlich komplett zu vergolden und eine riesige Last zu zertrümmern.

Jede Bewegung ein Geniestreich, jede Ballberührung ein Gedicht, geschrieben mit den Füßen. Jedes Spiel eine Show. Und das, obwohl er oft nur über den Platz schleicht und kaum zu sehen ist. Lionel Messi ist ein Phänomen. Einzigartig. Es ist ein Privileg, ihn bei diesem Turnier spielen zu sehen. Ein begnadeter Techniker und Torjäger, das war er schon immer. Aber der Argentinier dominiert diese WM, weil er erwachsen geworden ist - und sich endlich von der Last der Geschichte befreien will.

Auch beim deutlichen 3:0 (2:0)-Sieg über Kroatien weiß Messi wieder, wann er seine beinahe schläfrigen Spaziergänge über den Platz gegen unglaubliche Slalomläufe, präzise Pässe und eiskalte Abschlüsse eintauschen muss. Die Fans in Katar und an den Endgeräten sehen den besten Messi, den eine WM je hervorgebracht hat. "Diese Mannschaft ist verrückt und wir haben es geschafft, wir werden noch ein Finale spielen und das müssen wir genießen", jubelt der kleine Spielmacher nach dem am Ende lockeren Sieg.

Doch am Anfang sieht es für die Albiceleste nach allem anderen als einem Spaziergang aus. Kroatien ist griffiger in den Zweikämpfen und bestimmt in den ersten 20 Minuten im Lusail-Stadion den Ballbesitz. Dabei wird es mit dem Anpfiff schon historisch für Messi: Der 35-Jährige absolviert sein 25. Spiel bei einer WM und stellt damit den Rekord von Lothar Matthäus ein.

Messi, der Spaziergänger in Person. Der 35-Jährige ist in seinem fortgeschrittenen Alter bekannt dafür, dass er oft über den Platz schleicht, was er auch bei der WM über lange Strecken immer wieder zeigt. Erst in der 21. Minute bringt er seine erste Tempoverschärfung, doch außer einem Dribbling mit Doppelpass springt nicht viel heraus. Noch kann ja niemand wissen, welche Sprints, Schüsse und Showeinlagen der Schleicher in den kommenden Minuten noch aufs Feld zaubern wird. Allerdings: Es ahnen sicherlich viele von den gut 88.000 Zuschauern im Lusail-Stadion. Womöglich alle.

Messi, der Kartograf

Denn der Spaziergänger verwirrt mit seinem Spielstil Fans wie Gegenspieler. Nahezu frech joggt er mit kleinen Schritten, die aufgrund seiner kleinen Beine noch kleiner aussehen, ein wenig umher. Hier bleibt er stehen. Dort schlendert er mal ein paar Meter. Doch dabei kreist Messis Kopf wie bei einem Vogel in alle Richtungen. Links. Rechts. Vorne. Hinten. Wieder links. Wie ein Kartograf nimmt er alles um sich herum wahr und auf, analysiert in Echtzeit und weiß vor allen anderen, wo die Schwachstellen in der gegnerischen Defensive liegen.

Erhält er dann den Ball, spannen sich alle Sehnen in seinem Körper wie auf Knopfdruck an und es folgt eine dieser Tempoverschärfungen aus dem Nichts, für den ihn seine Fans lieben. Den Ball eng am Fuß geführt. Unnachahmlich. Typisch. Innerhalb von Millisekunden kann Messi sich in kleinsten und feinsten Bewegungen um Gegenspieler und seine eigene Achse drehen, sich somit Luft verschaffen und Chancen kreieren. Wie wohl kein zweiter auf dem Planeten. Die Kroaten dürften in der gestrigen Nacht davon das ein oder andere Mal aus dem Schlaf hochgeschreckt sein - so sie denn überhaupt Schlaf gefunden haben.

Denn das Drama für den Vizeweltmeister von 2018 entfaltet sich schnell und brutal nach dem guten Start. Und Messi ist, natürlich, stets mittendrin. In der 34. Minute sticht auf einmal Julián Álvarez durch und wird mustergültig bedient von Enzo Fernandez. Weil Dejan Lovren pennt, rennt der junge Angreifer von Manchester City allein auf Dominik Livakovic zu. Der Keeper holzt ihn um, es gibt Elfmeter.

Schleicher Messi, logisch, legt sich ganz gemächlich die Kugel auf dem Punkt zurecht. Aber beim Schuss gibt es dann die doppelte Explosion: Erst beim völlig humorlosen Hammer des Zehners (so ganz und gar nicht Spaziergänger-like) unter die Latte - und dann auf den Rängen. Mit dem Tor zieht Messi an der nächsten Legende vorbei, Gabriel Batistuta, und hat nun als einziger Argentinier elf Treffer bei Weltmeisterschaften auf dem Konto.

Messi ist überall

Keine zwei Minuten später kommt die Albiceleste dem großen Traum vom Finale ein großes Stück näher. Und was für ein verrücktes Tor das 2:0 in der 39. Minute ist, für das auch ein Messi-Sprint Verantwortung trägt, wenn auch nur ein minimaler. Ein ganz kleiner, mit dem er den Ball nach einer kroatischen Ecke genau so an Marcelo Brozovic vorbeispitzelt, dass Álvarez in den vollen Spurt übergehen kann.

Von der Mittellinie überrennt der Angreifer nun alle Gegenspieler, die sich ihm in den Weg stellen, als würde jemand auf dem Playstation-Controller die Sprinttaste drücken. Álvarez bleibt mehrmals hängen, bekommt den Ball aber genauso oft zurück vor die Füße, bis er per Volley aus nächster Nähe ins Tor abschließt. Messi springt ihm in die Arme. Jetzt ist hier Tollhaus. Auch Ronaldinho, der mit Messi beim FC Barcelona zusammenspielte, klatscht auf der Ehrentribüne.

Messi ist nun überall. Ob im Spaziertempo, mit einer kurzen Ballberührung oder im fünften Gang. Erst räumt er mit einer Tempoverschärfung drei Gegenspieler aus dem Verkehr und passt unter höchster Bedrängnis stark auf die linke Seite. Dann schlägt er eine Ecke an den ersten Pfosten, wo Alexis Mac Allister völlig freisteht und per Kopf nur dank einer starken Parade von Livakovic scheitert. Als letzte Aktion vor der Pause schüttelt Messi noch ein lockeres Genialitätsdribbling aus dem Fußgelenk, mit dem er sich mal eben in bester Schlangenmanier um vier Kroaten windet und nur durch ein Foul zu stoppen ist.

Messi dreht zwar in der zweiten Halbzeit zunächst ein paar gemächliche Runden am äußeren rechten Ende des schönen Stadion-Grüns. Aber pfeift dann vermehrt auf Spaziergänge. Am linken Strafraumeck vernascht der Zehner seinen Gegenspieler, indem er auf einem Bierdeckel eine Pirouette schlägt. Spielt anschließend einen feinen Doppelpass, doch seinen Schuss mit links aus spitzem Winkel pariert Livakovic noch geradeso.

"Du wirst nie müde zu zeigen, dass du der Beste der Welt bist"

Doch die Entscheidung folgt wenige Momente später in der 69. Minute. Eine der schönsten dieser WM. An der rechten Außenseite führt Messi den Ball und wird von Josko Gvardiol aufs engste begleitet. Dem 20-jährigen Innenverteidiger von RB Leipzig, für den eine Ablösesumme von bis zu 100 Millionen Euro im Raum und an dem der FC Bayern interessiert sein soll. Macht alles nichts. Auch zehn Gvardiols - ohne despektierlich zu sein - hätten heute keine Chance gegen den "Floh". Kein einziger Verteidiger der Welt hätte das.

Diesmal hängt Messi am Playstation-Controller und spielt Gvardiol schwindelig, lässt ihn mit einer unglaublichen Körpertäuschung an der Strafraumkante ins Leere laufen, zieht Richtung Grundlinie und aufs Tor zu. Es folgt, natürlich, der perfekte Pass in den Rücken der Abwehr. Dort läuft sich sein kongenialer Partner Álvarez, natürlich, perfekt frei und schiebt zum 3:0 ein. Welch eine Vorlage! Welch ein Tor! Die Argentinierinnen und Argentinier drehen völlig am Rad. Álvarez wird mit 22 Jahren und 316 Tagen der jüngste Doppelpacker in einem WM-Halbfinale oder Endspiel seit Pelé 1958.

Doha feiert an diesem Abend den vielleicht besten, weil erwachsensten Messi, den eine Weltmeisterschaft je gesehen hat. Ex-Kollege Luis Suárez schreibt auf Instagram über Messi: "Du wirst nie müde zu zeigen, dass du der Beste der Welt bist. Die Welt muss aufstehen und allem applaudieren, was dieser Mann dem Fußball gegeben hat." Der "alte Mann" weiß genau, wann er im Spaziertempo herumzuschleichen hat und wann er seinen unglaublichen Turbo für die genialen Messi-Momente zünden muss. Nun steht er kurz vor der Krönung. Und der Traum ganz Argentiniens lebt.

Messi und die erdrückende Bürde

Denn Messi trägt die Last eines kompletten Landes auf den eher schmächtigen Schultern. Nicht nur das. Zusätzlich noch die Last der Geschichte. Die Last, dem vielleicht besten Spielmacher aller Zeiten ebenbürtig zu werden. Seit Jahrzehnten fiebert das fußballverrückte und stolze Argentinien darauf hin, mit Messi endlich an den großen Erfolg 1986 unter Maradonas Regie abzuknöpfen. Es ist zwar noch nichts gewonnen, aber schon jetzt ist das Turnier, das nach der Auftaktpleite gegen Saudi-Arabien beinahe in der größtmöglichen Katastrophe geendet wäre, für Argentinien ein Erfolg. Die erdrückende Bürde, Messi hat sie beinahe komplett zertrümmert.

Nachdem er lange im Nationaldress nicht auf Maradonas Erfolgsspuren wandern kann, ist der früh aus seiner Heimat Rosario zum FC Barcelona ausgewanderte Messi in Argentinien nicht immer beliebt. Viele sind der Meinung, er müsse diesen einen Titel noch gewinnen, um es auf eine Stufe mit der Legende zu schaffen. Um unsterblich zu werden. Was der WM-Held von 1986, die vor zwei Jahren verstorbene Ikone dem Land immer noch bedeutet, sieht man auch daran, dass fast das gesamte Stadion in der 10. Minute zur Maradona-Hommage ansetzt: "Dieeego, Dieeego" hallt es von den Rängen.

Dieses Turnier ist Messis letzte Chance, um den WM-Titel zu erringen. Um zu Argentiniens nächster Legende aufzusteigen. "Ich bin sehr glücklich, meine Reisen zu WM-Turnieren mit meinem letzten Spiel in einem Finale zu beenden", sagt er selbst. "Bis zur nächsten WM sind es viele Jahre, und ich glaube nicht, dass ich es bis dahin schaffe. Und es so zu Ende zu bringen, ist das Beste." Am Sonntag im Finale gegen Frankreich oder Marokko geht es für Lionel Messi auch um sein persönliches Erbe. Wird wieder erst spaziert und dann gezaubert?

Quelle: ntv.de

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