Blut, Schweiß und Tränen Atlético Madrid, so ruppig wie ein Boxer
28.09.2019, 09:11 Uhr
Diego Simeone ist die Konstante bei Atlético.
(Foto: imago images / LaPresse)
Seit Jahren schlägt sich Atlético Madrid wacker gegen die eigentlich übermächtige Konkurrenz aus Barcelona und der eigenen Stadt. Viele Spieler kamen und gingen. Nur Trainer Diego Simeone blieb und mit ihm auch der Erfolg.
Es gibt Boxer, die gehören nicht zu den athletischsten, schlagstärksten oder elegantesten. Ihre Kämpfe sind unterhaltsam, weil es blutig zur Sache geht, weil voller Einsatz gezeigt wird. Und am Ende gewinnen sie, ihre Gesichter übersät mit blutigen Wunden. So ungefähr ist der Fußball von Atlético Madrid, einem Schwergewicht des europäischen Fußballs, das aber anders als der FC Barcelona, als Manchester City oder auch der FC Bayern nicht für Eleganz und Anmut steht.
Diego Simeone war als Spieler einer jener beinharten Mittelfeldläufer, die Partien schmutzig machten und Gegner allein durch ihre Präsenz einschüchterten. Diese Mentalität überträgt er seit vielen Jahren auf seine Spieler bei Atlético. Und allein die Erfolgskonstanz des Argentiniers und seiner Mannschaft machen Simeone momentan zum besten Trainer des spanischen Klubfußballs. Real Madrids Zinédine Zidane hat vielleicht dreimal die Champions League gewonnen, aber der Franzose musste auch nicht jedes Jahr seine besten Spieler abgeben. Bei Simeone trifft das schon eher zu.
An diesem Samstagabend kommt es nun zum Aufeinandertreffen der beiden Hauptstadtklubs (ab 21 Uhr im Liveticker bei n-tv.de). Und das Duell in Atleticos Stadion Wanda Metropolitano findet unter den besten Voraussetzungen statt. Real Madrid ist nach sechs Spieltagen mit 14 Punkten Tabellenführer der Primera Division. Die Rojiblancos liegen nur einen Zähler dahinter auf Rang drei - das punktgleiche Real Sociedad San Sebastian ist aufgrund des besseren Torverhältnis Zweiter.
Einmal mehr Umbaumaßnahmen nötig
Allein in diesem Sommer verließen mehrere Schlüsselakteure Atlético. Der knallharte Abwehrchef Diego Godín verabschiedete sich zu Inter Mailand, Weltmeister Lucas Hernández wechselte zum FC Bayern. Mittelfeldstratege Rodri spielt nun für Manchester City und Starstürmer Antoine Griezmann unterschrieb nach langem Hin und Her einen Vertrag beim FC Barcelona. Natürlich nahm Atlético durch diese Transfers auch jede Menge Geld ein - 270 Millionen Euro um genau zu sein. Aber viele Klubs konnten in der Vergangenheit trotz großer Reinvestitionen nicht an die Erfolge von zuvor anknüpfen. Simeone hat allerdings ein Auge für Spieler und lag in den letzten Jahren bei Verpflichtungen nur selten daneben.
In diesem Sommer verpflichtete er zusammen mit Sportdirektor Andrea Berta einerseits hochtalentierte Top-Talente wie Angreifer João Félix von Benfica und Linksverteidiger Renan Lodi vom brasilianischen Erstligisten Athletico Paranaense und andererseits international erfahrene Kicker, etwa Rechtsverteidiger Kieran Trippier und den mexikanischen Mittelfeldallrounder Héctor Herrera. Abgesehen vom 19-jährigen João Félix, der immerhin mit 126 Millionen Euro der teuerste Transfer des Sommers weltweit war, sorgte keine andere Verpflichtung für großes Aufsehen. Still und heimlich baute sich Simeone seine neue Mannschaft zusammen. Und die funktionierte vom ersten Spieltag weg. Atlético sieht sofort wieder wie ein Titelkandidat in Spanien aus. Genau das ist so faszinierend an den "Rojiblancos".
Das System bleibt
Es spielt augenscheinlich keine Rolle, wen Simeone in seiner Mannschaft hat. Natürlich kann er seit Jahren auf Vereinslegende Koke und den vielseitigen Saúl Ñíguez bauen. Natürlich haben auch die Neuzugänge allesamt eine hohe Qualität. Aber über allem steht das Spielsystem des Trainers, dass sich generell durch hohe Laufbereitschaft und intensives Zweikampfverhalten auszeichnet. Atlético verfolgt einen radikalen Ansatz - gerade für eine ambitionierte Mannschaft, die um Titel mitspielen möchte. Denn selbst im Liga-Alltag sind sich die Madrilenen nicht zu schade, mit elf Spielern in der eigenen Hälfte ein Ergebnis zu verteidigen und auch gegen durchschnittliche Gegner zu mauern.
Das 4-4-2 von Atlético lebt von seiner Kompaktheit. Die Flügelstürmer lassen sich in den Halbräumen zurückfallen und bewachen die Schnittstellen vor der Abwehr. Die Mittelfeldspieler rücken aggressiv nach vorn und befinden sich im nächsten Moment schon wieder nahe des eigenen Strafraums. Die Angreifer beschäftigen zu zweit teilweise vier bis fünf Gegner mit klugem Anlaufverhalten und viel Laufbereitschaft.Beeindruckend ist dabei, dass Simeone es auch schafft, Freigeister von seinem System zu überzeugen und in eben jenes zu integrieren. Das galt für den eher eigenwilligen Griezmann genauso wie für Sturmtank Diego Costa, der wohl nur unter Simeone funktioniert - sieht man sich seine Leistungen beim FC Chelsea und in der spanischen Nationalmannschaft an. Und das gilt nun auch für João Félix, der bei seinem Jugendverein Benfica noch alle Freiheiten genoss. "Das Beste an ihm ist, dass er lernen möchte und wenn das der Fall ist, dann ist die Integration immer kürzer", sagte Simeone kürzlich über seinen Königstransfer.
Madrids ewiger Underdog
Wenn es überhaupt Schwierigkeiten auf dem Rasen gibt, dann betreffen diese die Offensive. Costa und João Félix verstehen sich im Angriff noch nicht so gut, wie es Griezmann und Costa bis zum Sommer taten. Das Zusammenspiel harmoniert noch überhaupt nicht. Simeone hat sich in der Vergangenheit auch keinen Namen als Offensivspezialist gemacht, sondern häufig auf die Kreativität und den Instinkt seiner Angreifer vertraut. Falcao und Adrián López, Diego Costa und David Villa oder Griezmann und Fernando Torres - das Zusammenspiel funktionierte immer.

Das Zusammenspiel von Diego Costa (l.) und João Félix funktioniert noch nicht.
(Foto: imago images/Action Plus)
Die Erwartungshaltung im Verein und in Spanien ist trotz der vielen Abgänge mittlerweile eine andere als noch zu Beginn von Simeones Amtszeit im Jahr 2011. Immerhin stand Atlético unter seiner Führung in zwei Champions-League-Endspielen und gewann zweimal die Europa League. Zudem haben großen Sponsorendeals mit Aserbaidschan oder zuletzt Hyundai Geld in die Kasse gespült. Das alte und marode Estadio Vicente Calderón ist abgerissen und Atlético spielt nun im hochmodernen Wanda Metropolitano.
Damit hat Atlético vielleicht nicht mehr ganz den Charme des Arbeiterklubs. Aber in der Hauptstadt bleibt das Team der große Underdog gegen Real, das die Champions-League-Endspiele gegen Atlético 2014 und 2016 für sich entschied. Dieser Schmerz sitzt bei vielen Anhängern und Verantwortlichen noch tief. Als würde Simeones Mannschaft nicht sowieso schon jedes Spiel gegen Real mit Messern zwischen den Zähnen bestreiten, tun sie es seit diesen Finalniederlagen erst recht. Nichts anderes ist heute Abend beim nächsten Madrider Derby im wieder einmal feurigen Wanda Metropolitano zu erwarten. Simeone wird seine Mannschaft einpeitschen und die Spieler wie João Félix oder Koke und Diego Costa werden bis zur Erschöpfung rennen.
Nicht immer elegant, aber meist verdammt erfolgreich.
Quelle: ntv.de