Fußball

"Katastrophal", "unerklärlich" BVB droht seine komplette Saison zu vernichten

"In der ersten Halbzeit haben sie uns aufgefressen", sagte Marco Reus.

"In der ersten Halbzeit haben sie uns aufgefressen", sagte Marco Reus.

(Foto: IMAGO/osnapix)

Miserable Vorstellung statt Reaktion nach Bayern-Pleite: Ein desaströses Borussia Dortmund geht im DFB-Pokal bei RB Leipzig unter. Was ist mit der Top-Mannschaft 2023 passiert? Das Team schweigt, der frustrierte Sportdirektor Kehl ringt um Worte.

Das mit dem Kopf ist immer so eine Sache. Neurologisch gesehen ist er geradezu ein Wunderwerk, steuert Gedanken, Gefühle und Handlungen. Aber selbst die Forschung hat das Gehirn noch längst nicht komplett dekodiert. Und im Schädel eines jeden anderen steckt man bekanntermaßen nicht drin. In dem eines Fußballklubs schon gar nicht. Keine Frage. Und doch schicken sich Experten, Beobachter und Fans (Neurologen schweigen bei dieser Thematik allerdings) mit beinahe beängstigender Regelmäßigkeit an, Diskussion um Diskussion um Borussia Dortmunds Kopf zu entfachen.

Denn Fußballspiele werden nicht nur in den Füßen und Beinen entschieden. Die ganz Großen eben oftmals dort oben im ganz eigenen mehr oder minder stillen Kämmerlein (schließlich schießen etwa 70.000 Gedanken täglich durch die Nervenlaufbahnen). Siegermentalität nennt man das in der Fußballsprache dann gerne. Ein erschreckend harmloser und fehlerhafter BVB hatte von dieser Kraft des Kopfes am Mittwochabend bei der 0:2 (0:1)-Niederlage im Viertelfinale des DFB-Pokals bei RB Leipzig über 90 Minuten - man muss es so hart sagen - rein gar nichts.

Jeder Neurologe dürfte überfragt sein, wie der 2023 so dominante BVB (keine einzige Liga-Pleite bis zum 2:4 bei Bayern München am vergangenen Samstag) auf einmal so nervös, so ängstlich, ja so kopflos agieren konnte. Denn Dortmund stolpert ab Minute eins über den Platz, leistet sich Fehlpass um Fehlpass und kommt mit Leipzigs aggressivem Pressing überhaupt nicht klar. "In der ersten Halbzeit haben sie uns aufgefressen", redet der BVB-Kapitän Marco Reus im ZDF Klartext. "Dann wurde es besser. Wir konnten aber wenig Chancen herausspielen und waren viel zu harmlos." Sein Trainer Edin Terzić sah "eine katastrophale erste Halbzeit", in der sich seine Mannschaft "gewundert" habe, "dass es Zweikämpfe gibt".

In den Katakomben warten die Journalistinnen und Journalisten lange vergeblich auf Dortmunder Spieler. Niemand will Rede und Antwort stehen nach der zweiten miserablen Leistung in Folge. Derweil kommt Leipzigs Willi Orban angetrabt und erzählt: "Wir waren deutlich frischer in den Beinen - und auch im Kopf." Da ist es wieder, das Wunderwerk, das gleichzeitig so hinderlich sein kann.

Kehl kann sich erste Halbzeit nicht erklären

Weiter warten auf BVB-Kicker. Dann tut sich etwas. Sportdirektor Sebastian Kehl stellt sich der Presse. Sichtlich niedergeschlagen schreitet er langsam, den Blick gesenkt, vor die gezückten Aufnahmegeräte. Seine Finger, verkrampft ineinander gehakt, spielen nervös miteinander, während er spricht. "Das waren zwei Nackenschläge innerhalb kürzester Zeit. Unerklärlich, wie wir die erste Halbzeit so spielen. Das war das Schlechteste, was ich von uns gesehen habe in geraumer Zeit. In allen Belangen war das viel zu wenig und das ist sehr enttäuschend." Anzeichen habe es vor dem Spiel keine gegeben, die Mannschaft habe sich "sehr gewissenhaft vorbereitet". Das Ganze "wird uns noch ein paar Tage beschäftigen und nachdenklich machen".

Dabei wollte der BVB unbedingt eine Reaktion zeigen nach der Klatsche in München. Um zu zeigen, was wirklich in dieser Mannschaft steckt. Um die elendige Mentalitätsfrage, die den Revierklub über Jahre wie ein unangenehmes Steinchen im Schuh Schritt für Schritt nervte, die nun aber monatelang niemand mehr stellte, da der Verein von Sieg zu Sieg eilte, gar nicht erst wieder aufkommen zu lassen. Doch nun, nachdem nicht nur der FC Bayern, sondern auch RB Leipzig mindestens eine Nummer zu groß war, hat das piesackende Steinchen wieder seinen Weg in die BVB-Treter gefunden.

Denn es ist eben so eine Sache mit dem Kopf. Und es scheint, als habe der Patzer von Keeper Gregor Kobel in der 13. Minute der Partie bei den Bayern das gesamte Selbstvertrauen im Terzić-Team zerstört. Gegen Leipzig bekommt der BVB wie schon in München überhaupt keinen Zugriff im Mittelfeld, eine Angriffswelle der Sachsen jagt die nächste. Powerplay RB, Fehlerhochburg Dortmund. Weil Leipzig sehr hoch presst, früh auf den Ball geht und Dortmund ohne Spielgestalter Jude Bellingham in der Startelf keine Chance auf einen seriösen Spielaufbau lässt, hat der BVB in den ersten fünf Minuten praktisch keinen Ballbesitz und RB schon drei Torschüsse.

Das sieht dann so aus - nur beispielhaft, denn alle Dortmunder Fehler, die zu gegnerischen Möglichkeiten führen, lassen sich in diesem Text unmöglich auflisten: Bereits in der dritten Minute dürfen sich die Brausekicker auf der rechten Seite viel zu einfach durchspielen, Torhüter Gregor Kobel reagiert glänzend und vereitelt die erste Großchance. Drei Minuten später verliert Niklas Süle den Ball viel zu leichtfertig gegen Timo Werner, diesmal muss der BVB-Keeper bei Dani Olmos Fernschuss retten. In der 12. Minute unterläuft Raphael Guerreiro ein stümperhafter Abspielfehler im Mittelfeld auf Emre Can, der Gegenstoß führt zur Großchance durch Olmo, aber Kobel reagiert glänzend mit dem Fuß. "Wir haben gedacht, wir können einfach ein bisschen Fußball spielen", sagt der frustrierte Kehl dazu, "und genau das, was sie von uns haben wollten, haben wir ihnen auch noch geliefert. Wir waren unglaublich verunsichert und immer einen Schritt zu spät."

Kaum hat sich der BVB nach einer Viertelstunde gefangen, fällt das 0:1 (22.). Die Schwarz-Gelben schauen dabei ehrfurchtsvoll zu, können oder wollen aber nicht wirklich dazwischen gehen. Ohne jeglichen gegnerischen Druck im Mittelfeld darf RB in aller Seelenruhe über Mohamed Simakan auf der rechten Außenbahn aufbauen. Am Ende bekommt der Rechtsverteidiger den Ball am Dortmunder Strafraum wieder und legt ihn mit einer flinken Bewegung an Mats Hummels vorbei. Der alternde Rio-Weltmeister benötigt zu lange, um sich zu drehen, in der Zeit hat Simakan die Kugel schon in den Fünfmeterraum gepasst, wo Werner zur verdienten Führung einschiebt.

Keine Torchance in 45 Minuten

Auf einmal sind selbst die Dortmunder Fans mucksmäuschenstill. Das Nervennetzwerk im Gehirn wird mit Bier beruhigt. Der Schock kommt dennoch langsam, aber sicher im Kopf an: Dieser BVB ist im Vergleich mit dem des Jahres 2022 wie ausgewechselt und erinnert lediglich in beängstigender Art und Weise an die ersten 30 Minuten in München, nach denen es bereits 0:3 stand. Selbst beste Neurowissenschaftler würden sich an dieser kopflosen Darbietung die Zähne ausbeißen: Nach 45 Minuten hat der BVB in Leipzig keine einzige Torchance, nicht mal einen Schuss aufs Tor. Die Torschussstatistik zeigt 1:14.

Auch wenn das Dortmunder Spiel in Halbzeit zwei etwas sicherer wird, ein wirkliches Aufbäumen gibt es nicht. Die Einwechslung Bellinghams bewirkt ebenfalls wenig, die Großchancen haben die auf Konter lauernden Leipziger, für die in der 98. Minute Orban einen blitzschnellen Konter zum Endstand abschließt. Siegermentalität? Wiedergutmachung nach der Bayern-Pleite? Die richtige, mutige Reaktion? Dreimal Schwarz-Gelbe Fehlanzeige. Es scheint eher, als hätte der BVB einen echten Knacks erlitten und alles, was ihn im Jahr 2023 so stark gemacht hat, aus dem Kopf verdrängt. "Wir haben uns überhaupt nicht gewehrt", klagt Kehl an.

Da ist er wieder, dieser verflixte Kopf. Der manchmal einfach macht, dass Bein und Füße nichts machen. Jedenfalls nicht so wie die Dortmunder wollen. RB-Trainer Marco Rose beschrieb das vor dem Pokalduell mit Dortmund im Hinblick auf seine strauchelnde Mannschaft mit beinahe medizin-philosophischer Fachkunde: "Im Moment gehen uns die Dinge nicht so leicht von der Hand. Das kommt schnell im Kopf an. Was im Kopf angekommen ist, geht schnell in die Beine. Wenn du dann nicht die Beine in die Hand nimmst und in den Griff bekommst, dann wirkt sich das relativ schnell wieder auf den Kopf aus."

Bayern war kein Ausrutscher

Man muss es nicht ganz so extremitätengetreu analysieren, die Krux für den BVB lautet: Die Handlungen sind in Leipzig zu schlecht für eine Mannschaft, die Titel gewinnen will. Noch erschreckender: Die Bayern-Partie war kein Ausrutscher. Im zweiten extrem wichtigen Spiel in Folge bringen die Dortmunder eine katastrophale Leistung auf den Platz, offensiv wie defensiv. Und drohen sich damit eine unglaublich starke Saison komplett zu verbocken.

Champions League: Aus gegen Chelsea im Achtelfinale. Meisterschaft: Nun wieder Verfolger der Übermannschaft aus München. DFB-Pokal: Den im Vergleich einfachsten Titel in Leipzig mit einem desaströsen Auftritt hergeschenkt.

Ob die nötige Siegermentalität jetzt zurück erkämpft werden kann? "Man kann verlieren, aber in dieser Art und Weise sicherlich nicht", sagt Sportdirektor Kehl zum Abschluss. "Heute ist etwas passiert, was wir so nicht erwartet haben. Mir fällt es schwer, das zu akzeptieren." Es ist eben so eine Sache mit dem Kopf.

Quelle: ntv.de

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