Fußball

"Bei der WM gilt: Realität schlägt Theorie" Bundestrainer Löw droht - nur wem?

Joachim Löw sind bei einigen Spielern noch Defizite.

Joachim Löw sind bei einigen Spielern noch Defizite.

(Foto: dpa)

Noch 100 Tage sind es bis zur Fußball-WM in Brasilien. Anlass genug für Bundestrainer Joachim Löw, sich vor dem Testspiel gegen Chile mit einem Appell an seine Profis zu wenden: Sie sollen sich bitteschön professioneller verhalten. Wen mag er da meinen?

Wer Joachim Löw so reden hörte, der konnte glauben, ein Oberstudienrat appelliere an die Erziehungsberechtigten einiger notorisch fauler Oberprimaner, die drauf und dran sind, ein Vierteljahr vor dem Abitur ihr Talent zu verschleudern und alles zu versauen. "Die Uhr tickt. Nur wer sie hört, wird eine reelle Chance haben, dabei zu sein." Willkommen beim Elternsprechtag. Nur, wen mag der Bundestrainer gemeint haben?

So könnte die DFB-Elf spielen

Deutschland - Chile, Mittwoch, 20.45 Uhr

Manuel Neuer - Kevin Großkreutz, Per Mertesacker, Jeróme Boateng, Marcel Schmelzer – Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger – Mario Götze, Toni Kroos, Mesut Özil – Miroslav Klose (Pierre-Michel Lasogga).

Lukas Podolski, den Klassenclown? Mesut Özil, den musisch begabten Schweiger aus der letzten Reihe? Marco Reus, den p fiffigen Flitzer mit Konzentrationsmängeln, Max Kruse, den selbstbewussten Halbstarken? Etwa Jeróme Boateng, den phlegmatischen Langsamsprecher mit dem Basecap oder gar Philipp Lahm, den Schulsprecher? Um im Bild zu bleiben: Die Streber vom FC Bayern aus dem Leistungskurs Fußball wird er nicht gemeint haben. Doch die anderen dürfen sich durchaus angesprochen fühlen. Der Bundestrainer schätzt die Lage als ernst ein, 100 Tage bevor die Brasilianer mit der Partie gegen Kroatien am 12. Juni in Sao Paulo die Weltmeisterschaft eröffnen.

Also nutzte er vor dem Testspiel am Mittwoch in Stuttgart gegen Chile (ab 20.45 Uhr in der ARD und im Liveticker bei n-tv.de) im Mercedes-Benz-Museum die Gelegenheit, sich vor den versammelten Journalisten als scharfer Kritiker der eigenen Mannschaft zu profilieren. "Es ist ein Appell an alle, ein Weckruf für manche, dass sie ihr Training, ihren Lebenslauf und ihre Professionalität so nutzen, dass sie die letzten Monate bis zur WM optimal gestalten."

Die Deutlichkeit der Kritik scheint ungewöhnlich, ist aber nur pragmatisch. Statt die vielen angeschlagenen Spieler zu beklagen, die auch Joachim Löw nicht gesund reden kann, beschäftigt er sich mit denen, die er hofft, beeinflussen zu können. "Einige haben noch Defizite und müssen da vermehrt was tun." Konkreter wurde der Bundestrainer nicht, nannte also keine Namen, sprach aber explizit von Zusatzschichten. Das sei ein Auftrag, er werde das überwachen. Der drohende Unterton ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass es nun langsam ans Eingemachte geht.

"Dem einen oder anderen Spieler wehtun"

Oder wie Joachim Löw sagte: "Die Zeit wird immer enger. Wir haben die Phase der Wahrheit und Klarheit begonnen." Er brauche einen "Kader, der maximal belastbar ist". Wer nicht mitzieht, fliegt raus, soll das wohl heißen. Die Partie gegen Chile ist der letzte Test, bevor der Bundestrainer am 8. Mai, zwei Tage vor dem letzten Bundesligaspieltag, verraten will, welche 25 bis 28 Kandidaten im vorläufigen Kader für das wichtigste Fußballturnier der Welt stehen. Doch nur 23 dürfen mit nach Brasilien, daher werde er Entscheidungen treffen, "die sicher dem einen oder anderen Spieler wehtun werden".

Lieber wäre ihm dennoch, er könnte aus einem größeren Reservoir schöpfen. So talentiert zum Beispiel die Neulinge Pierre-Michel Lasogga, Matthias Ginter, Shkodran Mustafi und André Hahn auch sein mögen: Das sind nicht die Spieler, die die deutsche Mannschaft zum angestrebten WM-Titel führen werden. So ernst es Joachim Löw mit seinen strengen Worten auch gemeint haben mag, ihn treibt ebenso sehr die Sorge um, dass der Traum vom Weltpokal allzu früh platzen könnte. "Einige Spieler waren über Monate verletzt, andere haben keinen Spielrhythmus, einige kämpfen mit ihrer Form."

Manager Oliver Bierhoff hatte ihm die Vorlage geliefert, als er in Stuttgart kritisierte, gefühlt würde ganz Deutschland mit der Erwartung in das Weltturnier vom 12. Juni bis 13. Juli gehen, dass der Bundestrainer einen wunderbaren Kader auf dem Tablett serviert bekommen habe und er nur noch den Titel abholen müsse. "Doch das ist nicht so, das bedeutet viel Arbeit." Joachim Löw nahm den Ball gerne auf: "Auf dem Papier haben wir eine Top-Mannschaft mit Top-Spielern. Die Wahrheit sieht aber anders aus. Bei der WM gilt: Die Realität schlägt die Theorie."

Das heißt auch: Er ist zumindest in einem Fall bereit, von seiner Maxime abzuweichen, nur hundertprozentig gesunde Akteure im Spielrhythmus mitzunehmen. Schließlich gelte: "Wenn wir viele Spieler mit Problemen haben, dann schleppen die das im Gepäck mit." Sami Khedira aber habe "einen Mehrwert für die Mannschaft, auch wenn er nur zu 80 oder 90 Prozent fit ist." Zumal der Rekonvaleszent nach seinem Kreuzbandriss enorme Fortschritte mache. Um das Klassenziel zu erreichen, weicht der Bundestrainer also von seiner eigenen Doktrin ab. "Das ist die Ausnahme, aber nicht die Regel."

Quelle: ntv.de

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