China schreibt Geschichte Die Nordostpassage könnte die Weltwirtschaft umwälzen
02.11.2025, 16:54 Uhr Artikel anhören
Ein Gastanker auf der Nordostpassage.
(Foto: picture alliance / dpa)
China rückt durch eine historische Meldung im internationalen Warenverkehr enger an Europa. Ein Frachter gleitet in Rekordzeit durch die Nordostpassage in der Arktis - ohne Eisbrecher und außerhalb des Hochsommers. Das könnte den Welthandel auf den Kopf stellen. Aber nicht ohne Risiko.
Jeden Tag kommen riesige Containerschiffe aus Asien im Hamburger Hafen an. Mitte dieses Monats hat einer der Frachter Geschichte geschrieben. Die "Istanbul Bridge", ein 300 Meter langes Containerschiff aus China, erreicht Hamburg in Rekordzeit. Am 23. September ist der Frachter in Ningbo-Zhousan bei Shanghai an der chinesischen Ostküste losgefahren. Schon 22 Tage nach der Abfahrt kam er in Deutschlands größtem Hafen an.
Normalerweise steuern Schiffe auf dem Weg von China nach Europa den Suezkanal an. Sie fahren durch das Südchinesische Meer, anschließend an Indien und der Arabischen Halbinsel vorbei, ehe sie schließlich das Mittelmeer erreichen. Die Route dauert bis zu sechs Wochen. Aktuell sind viele Frachter aber noch länger unterwegs. Wegen der Huthi-Angriffe im Roten Meer und Golf von Aden schicken viele Reedereien ihre Schiffe den weiten Weg um Südafrika herum. Die Route um das Kap der Guten Hoffnung dauert in der Regel fast acht Wochen.
Die "Istanbul Bridge" hat dagegen die Nordostpassage genommen. Von Ostchina ging es durch das Ostchinesische Meer, das Japanische Meer und die Beringstraße hindurch. Dann fuhr der Frachter fünf Tage entlang der russischen Küste bis nach Skandinavien.
Nach 20 Tagen hat die "Istanbul Bridge" den Hafen von Felixstowe in Großbritannien erreicht. Zwei Tage später fuhr das Schiff in den Hamburger Hafen ein. China und Europa profitieren von deutlich kürzeren Transportwegen. Vor allem im Vergleich zu den üblichen Schiffsrouten. "Insbesondere für den Transport chinesischer Güter nach Europa können Kosten eingespart werden. Hier reden wir von einer Kostenersparnis um bis zu 50 Prozent bei günstiger Wetterlage", erklärt André Wolf vom Centrum für Europäische Politik (CEP) im Interview mit ntv.
Rekordfahrt ohne Eisbrecher
Spektakulär ist die Rekordfahrt auch deshalb, weil das chinesische Schiff entlang der Nordostpassage nicht von einem Eisbrecher begleitet wurde. Das ist entlang der eigentlich lebensfeindlichen Route unüblich - vor allem so spät im Jahr.
Umso besser sind die Voraussetzungen für einen dauerhaften Linienbetrieb mit eisgängigen Schiffen: Die chinesische Reederei Sea Legend will in den Sommermonaten dauerhaft auf der Nordostpassage unterwegs sein. Die "Istanbul Bridge" soll die Strecke künftig regelmäßig befahren.
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Das hat es bisher nicht gegeben: In den vergangenen Jahren sind einzelne Frachter immer mal wieder durch die Nordostpassage gefahren. Einen Container-Linienbetrieb, wie ihn Sea Legend plant, existiert bis dato nicht.
Putin sieht den Rubel rollen
Bislang nutzt vor allem Russland die Route für vereinzelte Rohstofflieferungen, dazu gehört der Transport von Rohöl aus der weit entfernten Jamal-Region im Nordwesten von Sibirien nach China. "Peking ist im Zuge der Energiekrise und der EU-Sanktionen gegen russisches Öl zum wichtigsten Importeur von russischem Öl aufgestiegen", sagt Experte Wolf. "Das heißt, für Russland hat die Route eine ganz zentrale Bedeutung für den russisch-chinesischen Wirtschaftsverkehr."
Für Russland ist die Nordostpassage auch eine direkte Geldquelle. Kremlchef Wladimir Putin will die Route zu einer wichtigen Handelsroute ausbauen - und sieht schon den Rubel rollen: Moskau will gegen Gebühr Eisbrecher als Begleitschiffe bereitstellen und Durchfahrtsgebühren kassieren.
Noch muss sich Putin aber gedulden: Große Teile der Arktis sind nach wie vor einen großen Teil des Jahres von Eis bedeckt und damit nicht schiffbar. "Bis vor wenigen Jahren war es so, dass die Route, wenn überhaupt, nur im Hochsommer zugänglich war", sagt André Wolf. "Jetzt hat es ein Containerschiff im Oktober bis nach Europa geschafft. Das ist für mich ein Zeichen für eine neue Zeit, in der der arktische Schiffsverkehr im globalen Transport zunehmend wichtiger wird."
Auch Klaus-Peter Saalbach geht davon aus, dass Schifffahrtsrouten durch die Arktis stark an Bedeutung gewinnen werden. "Man rechnet damit, dass die Vereisung in den 2030er und 40er Jahren weitgehend zurückgegangen sein wird", sagt der Experte für Sicherheits- und Geopolitik im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Transpolare Seeroute und Nordwestpassage
Neben der Passage um Nordrussland herum könnten in wenigen Jahren noch zwei weitere arktische Seewege die internationale Schifffahrt umwälzen. Die Transpolare Seeroute führt durch das Zentrum des Arktischen Ozeans und könnte vor allem Island zu einem wichtigen Knotenpunkt der Weltwirtschaft werden lassen. Die abgelegene Vulkan- und Gletscherinsel wäre ein geeigneter Standort für einen großen Umschlaghafen, sollte die Transpolare Route eines Tages schiffbar sein, analysiert Saalbach. "Island könnte ökonomisch davon profitieren. Das Land ist am Ausbau von Handelsbeziehungen mit den arktischen Partnern sehr interessiert."
Die dritte mögliche neue Handelsroute ist die Nordwestpassage. Diese Strecke verbindet den Atlantik mit dem Pazifik, verläuft über das Nordpolarmeer und entlang der kanadischen Arktisinseln. Bereits 1845 hatte das Britische Imperium versucht, die strategisch wichtige Abkürzung schiffbar zu machen. Doch die Expedition von "Erebus" und "Terror" endete in einer Katastrophe, 170 Jahre lang schloss die Arktis die beiden Schiffe in ihren riesigen Eismassen ein. Erst 2014 und 2016 wurden ihre Wracks in der lebensfeindlichen Region entdeckt.
Im Gegensatz zu Nordostpassage und Transpolarer Route ist bei der Nordwestpassage bisher jedoch kein wirtschaftlicher Betrieb absehbar. "Wissenschaftler des amerikanischen Kongresses, das ist das Gegenstück zum Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, haben voriges Jahr erstmals Zweifel geäußert", verweist Saalbach auf eine Analyse aus Washington. Darin heißt es unter anderem: "Die Nordwestpassage ist potenziell für den Handel zwischen Nordostasien (nördlich von Shanghai) und dem Nordosten Nordamerikas geeignet, aber sie ist kommerziell weniger rentabel als die Nordostpassage."
Ökonomische und ökologische Risiken
Anders als die chinesische Reederei Sea Legend, zu der die "Istanbul Bridge" gehört, sind andere Schifffahrtsunternehmen auch skeptisch, ob die Nordostpassage zum aktuellen Zeitpunkt schon wirtschaftlich ist. Experte André Wolf macht jedenfalls auf mehrere Risiken aufmerksam. "Eisfreiheit kann man nicht das ganze Jahr über garantieren, auch nicht in Zukunft. Es ist sehr schwierig vorauszusagen, in welchen Intervallen diese Route über einen längeren Zeitraum hinweg sicher befahrbar sein wird."
Das führe zu großen ökonomischen Risiken für die Reedereien. Zu erwarten seien hohe Versicherungskosten und mögliche Gebühren für begleitende russische Eisbrecher. Die Kosten eines dauerhaften Warenverkehrs durch die Nordostpassage sind kaum zu prognostizieren. "Und es birgt auch Umweltrisiken", macht Wolf deutlich. "Russland ist mittlerweile dazu übergegangen, nicht nur Tanker mit entsprechender Eisklasse für seinen Öltransport einzusetzen, sondern auch solche, bei denen durchaus die Gefahr besteht, dass es zu Unfällen kommt und Öl ausläuft."
Mittlerweile ist die "Istanbul Bridge" wieder auf der gängigen Route von Europa nach China unterwegs. Vor neun Tagen hat das Containerschiff in Rotterdam abgelegt, ist an Westeuropa vorbei und durchs Mittelmeer geschippert. Jetzt liegt das Schiff in Port Said, der ägyptischen Hafenstadt am Eingang des Suezkanal. Von hier aus sind die chinesischen Häfen noch gut einen Monat entfernt.
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Quelle: ntv.de