Wilde Achterbahnfahrt, aber … FC Bayern tappt blind in die Real-Falle
01.05.2024, 05:29 Uhr
Die Bayern zeigten eine starke Leistung, mussten aber gegen Real zwei Gegentore hinnehmen.
(Foto: IMAGO/kolbert-press)
Real Madrid tut Real-Dinge: Obwohl alle davor warnen, fällt der FC Bayern im Halbfinale der Champions League auf eine Falle der Königlichen hinein. Und zwar gleich doppelt. Dennoch überzeugen die Münchner an einem denkwürdigen Abend phasenweise mit dem besten Fußball der Saison.
Spätestens ab Sekunde 41, als ein erstes lautes Raunen durchs Rund hallt, weil Leroy Sané eine riesige Torchance vergibt, ist allen im mit 75.000 Zuschauern ausverkauften Stadion klar: Dies wird ein denkwürdiger Königsklassen-Abend.
Es sollte ein Spektakel werden. Alles war darauf angelegt. Der Halbfinal-Kracher schlechthin in der Champions League, Bayern München gegen Real Madrid: Er hält, was er verspricht. Der deutsche Rekordmeister gegen die Königlichen, nicht nur absolutes Spitzenspiel und ein vorgezogenes "Finale" (Bayern-Trainer Thomas Tuchel), sondern der Clásico der Königsklasse - kein Duell gab es in der Königsklasse öfter.
Das 27. Aufeinandertreffen am Dienstagabend in München mutiert zu einer herrlich-wilden Achterbahnfahrt. Doch beim 2:2 (0:1) geben die Bayern ein Spiel aus der Hand, in dem sie phasenweise so guten Fußball zeigen wie niemals zuvor in dieser Saison. Ein Spiel, das sie hätten gewinnen müssen - und das sie gewonnen hätten, wenn es gegen jeden anderen Gegner als Real Madrid gegangen wäre.
So aber tappen die Münchner gleich doppelt in die perfide Falle des spanischen Hauptstadtklubs, die den Königlichen auch in diesem Jahr wieder den Weg durch die K.-o.-Phase ebnet. Möglicherweise bis ins Finale nach Wembley.
Frühe Druckphase der Bayern
"Wir hätten gerne gewonnen, das Spiel hätte das auch hergegeben", sagt Torhüter Manuel Neuer nach der Partie gegenüber dem an diesem Abend riesigen Pressepulk. Tuchel erklärt bei Amazon Prime, dass man am Anfang "gleich in Führung hätte gehen müssen". Danach hätte seine Mannschaft zu sehr nachgelassen und erst in der zweiten Halbzeit wieder eine gute Leistung gezeigt.
Doch von Anfang an. Wohin man auch schaut: rot. Shirts, Schals, Schuhe, Trikots. Die Massen pilgern schon drei Stunden vor dem Spiel zur Arena, die U-Bahnen sind heillos überfüllt. Eine kleine Armada von Fans sucht noch nach Tickets für das größte Spiel in München seit Jahren. Die Anhänger empfangen den Münchner Mannschaftsbus in Scharen, erst vor den Toren des Stadions, dann in den Katakomben. "Das war etwas ganz Großes", zollt Neuer später Respekt. "Die Atmosphäre im Stadion war massiv", fährt er fort.
Eine Stunde vor Spielbeginn: Früher als sonst füllt sich das Rund. Es knistert. "The Final Countdown" von "Europe" schalt aus den Boxen. Und wie auf Knopfdruck schießt auch der FC Bayern vom Anstoß an los. 41 Sekunden sind gespielt, da hat Sané das 1:0 auf dem Fuß: Über Noussair Mazraoui und Harry Kane erhält die Nummer 10 im linken Strafraum den Ball, kann frei auf Keeper Andriy Lunin durchstarten - doch sein Schuss aus spitzem Winkel wird gerade noch abgewehrt.
Fans und Mannschaft machen von Anfang an unisono Druck. Real dagegen steht tief. Toni Kroos erzählt den Medien nach der Partie, dass dies nicht der Plan war, sondern dem kraftvollen, schnellen und schnörkellosen Spiel der Bayern geschuldet. Bereits in der sechsten Minute, nach einem schönen Antritt mit noch schönerer Hackenablage von Sané, erhält Kane die zweite gute Chance des Spiels. Sein Flachschuss ist aber zu harmlos. Nur 180 Sekunden später versucht es der englische Stürmer nach starkem Ballgewinn von Mazraoui gegen Jude Bellingham mit dem Kunstschuss von der Mittellinie, weil Lunin zu weit vor dem Tor steht. Knapp drüber. 12. Minute: Nächster Abschluss, der diesmal über das Tor fliegt. Jamal Musiala vergibt nach Thomas Müllers Pass von der Grundlinie in den Rücken der Abwehr.
Real-Falle nach dem Rausch
Der FC Bayern spielt sich in den ersten 15 bis 20 Minuten in einen Rausch. Allein: Das Tor fehlt. Aber die Münchner agieren viel griffiger, aggressiver und engagierter als Real; Toni Kroos und Aurélien Tchouaméni bekommen überhaupt keinen Zugriff in der Zentrale, Bellingham wird stets hart attackiert und aus dem Spiel genommen. Jeden Ballgewinn beklatschen die roten Fans lautstark.
An dieser Stelle darf man sich als Bayern-Anhänger aber durchaus fragen, wieso die Münchner solch ein Feuerwerk in dieser Bundesliga-Saison nie abbrennen konnten. Sind Liga und Pokal durch die Dominanz der letzten Jahre wirklich so belanglos geworden für die Spieler, dass schlichtweg die Motivation fehlt?
Real jedoch ist Real. Bleibt genauso ruhig wie Altmeister-Trainer Carlo Ancelotti an der Seitenlinie. Und dann macht Real eben Real-Dinge. Nachdem sich die Spanier ein wenig gefangen und ein paar wenige Ballbesitzphasen haben, stechen sie eiskalt zu. Die klassische Real-Falle, vor der nicht nur Tuchel explizit gewarnt hatte. Erstmals wird es mucksmäuschenstill im Stadion.
Kurz lässt die Konzentration nach, eine Sekunde lang passen die Bayern nicht richtig auf - und schon stellen die Königlichen auf 1:0. Kroos wird im Mittelfeld überhaupt nicht angegriffen, Leon Goretzka und Konrad Laimer traben locker vor ihm her. So lässt sich der deutsche Nationalspieler nicht zweimal bitten und spielt einen Zuckerpass durch gleich zwei Reihen der Bayern. Vinicius Junior zieht mit einer feinen Bewegung Minjae Kim aus der Verteidigung und der Brasilianer erläuft den Kroos-Weltklasse-Ball mit seinem wahnsinnigen Tempo. Neuer zögert kurz und kommt halbherzig aus dem Tor, Vinicius Junior schiebt cool ein.
Bayern-Doppelschlag nach der Pause
"Hätte der Ball mehr Fahrt aufgenommen, wäre ich rausgekommen", erklärt Neuer später. Aber der Spielzug der Madrilenen ist einfach zu gut, zu einstudiert, zu abgeklärt. Eine Chance, ein Tor, mit Top-Qualität auf allen Positionen. Weil dieser Treffer mindestens zur Hälfte Kroos gehört, hebt Toni Rüdiger seinen Kollegen aus der Nationalmannschaft am Mittelkreis hoch, fast alle Spanier gratulieren zunächst dem Vorlagengeber.
Neuer erkennt einen "ähnlichen Spielverlauf" zu vorherigen Partien von Madrid in dieser Saison. Es sei oft so, "dass Real nicht viel Ballbesitz hat, dann aber brandgefährlich ist", sagt der Keeper. Alle und jeder wussten es, nur verhindern kann die kaltschnäuzige und effiziente Falle niemand.
Aber die Bayern beweisen nach der Pause, dass sie ihre Dominanz auch mit Toren garnieren können. Zwar ist erst Real am Zug, weil in der 51. Minute Sané ins Dribbling gegen zu viele Königliche geht und leichtfertig den Ball verliert, doch Neuer pariert Kroos' trockenen Abschluss mit einer spektakulären Flugeinlage. Dann aber macht Sané seinen Fehler direkt wieder wett (53.): Auf dem rechten Flügel geht der Nationalspieler ins Power-Dribbling, lässt mit einer Körpertäuschung Ferland Mendy aussteigen und hämmert die Kugel ins linke Eck. Passenderweise ist an diesem Abend Arjen Robben in der Arena, das hätte er selbst nicht viel besser gekonnt.
Das Stadion kocht sofort wieder und erlebt die nächste furiose Anfangsviertelstunde. Musiala dribbelt sich links in den Strafraum, Lucas Vazquez bringt ihn zu Fall. Kane trifft eiskalt vom Punkt (57.) und macht den Doppelschlag perfekt. Was ist denn hier los? Auf einmal ist das Spiel auf den Kopf gestellt. Haben die Münchner in der Halbzeit den Kaltschnäuzigkeitszaubertrank aus der Real-Kabine geklaut? Zehn Minuten später schießt Kane knapp am rechten Pfosten vorbei, weil Rüdiger noch entscheidend abfälscht. Bei der anschließenden Ecke köpft Dier gefährlich aufs Tor, aber Lunin hält.
Zweite Real-Falle kurz vor Schluss
Doch wahrscheinlich ahnt zu diesem Zeitpunkt bereits jeder, dass das wilde und intensive Halbfinale, in der Laimer nun im Mittelfeld alles grandios abräumt, noch eine Pointe bereithält. Eine weitere Falle der Königlichen. Und tatsächlich setzt Madrid kurz vor Schluss noch einmal die berüchtigten Nadelstiche fast aus dem Nichts. Diese Mannschaft gibt niemals auf, diese Mannschaft darf man nicht abschreiben, bis der Pfiff des Unparteiischen ertönt ist.
In der 79. Minute ist es zunächst ein weiterer Zuckerpass, diesmal vom eingewechselten Luka Modric: Seinen Lupfer schnappt sich Vinicius Junior, zieht direkt ab, aber Neuer pariert mit der linken Pranke. Vier Minuten später aber begeht Kim seinen zweiten Fehler des Abends, als er Rodrygo umreißt. Es gibt den nächsten Elfmeter und das Stadion setzt zum Pfeifkonzert an. Vinicius Junior bleibt aber ein zweites Mal eiskalt und verlädt Neuer zum 2:2-Endstand.
Nach dem Abpfiff vermischen sich bei den Bayern lange Gesichter mit Stolz auf die gute Leistung. Während Kroos der Presse erklärt, dass das Unentschieden "gerecht" sei, fühlen die Münchner sich, als hätten sie einen Sieg aus der Hand gegeben. "Ein bisschen gedämpft", sei die Stimmung, gibt Müller zu. Schließlich "war alles angerichtet für den Sieg".
Aber der Routinier kennt nach seinem 150. Spiel in der Champions League natürlich auch alle Fußball-Weisheiten: "Real Madrid ist Real Madrid", sagt Müller. Da sei es "keine Sensation", dass man sich ein oder zwei Tore fängt. Besonders angesichts der Fallen der Königlichen, gegen die selbst die besten Mannschaften der Welt manchmal kein Mittel haben. Der FC Bayern tappt gleich doppelt hinein, muss vor dem Rückspiel in Madrid aber nicht fürchten, wenn die phasenweise grandiose Leistung auf weitere Strecken der Partie ausgedehnt wird.
Quelle: ntv.de