Chaos nach Bobic-Rauswurf Hertha BSC erstickt an der kalten "Berliner Luft"
30.01.2023, 13:07 Uhr (aktualisiert)
Ein letztes Derby für Fredi Bobic.
(Foto: IMAGO/Matthias Koch)
Der 28. Januar 2023 ist ein Tag, den sich die von Krise zu Krise eilenden Anhänger von Hertha BSC merken werden. Nach dem 0:2 im Derby gegen Union Berlin feuert der Klub Fredi Bobic, steht mal wieder vor einem Scherbenhaufen. Die zweite Liga rückt immer näher. Nur ein kleines Zeitfenster bleibt.
Der Derby-Tag begann für einige Hertha-Fans mit einem Polizeieinsatz am Ostkreuz und endete für alle, die es mit dem Dauerkrisenklub aus dem Berliner Westend halten, mit einer nächsten den Verein in seinen Grundfesten erschütternden Entscheidung. Fredi Bobic, vor kaum mehr als 18 Monaten mit großen Ambitionen aus Frankfurt in die Hauptstadt gewechselt, muss seine Koffer packen. Der Geschäftsführer Sport wurde nur wenige Minuten nach dem 0:2 (0:1) gegen Union Berlin gefeuert. Den Tabellensiebzehnten der Fußball-Bundesliga erwarten in den kommenden Wochen und Monaten die tiefsten Täler. Noch hoffen sie auf Erlösung, aber Hertha BSC schickt sich an, die Nachfolge der gefallenen Traditionsklubs Hamburger SV und FC Schalke 04 anzutreten.
Ein kalter Januar-Tag in Berlin, vier Derbypleiten in Folge, der Absturz unter die Abstiegslinie und das 0:5-Debakel gegen den VfL Wolfsburg noch in den Köpfen. Auf der anderen Seite der ewig erfolgreiche Stadtrivale aus dem Ostteil der Stadt mit seinem Vertrauen in die eigene Stärke, die manchmal nichts weiter ist als die Gewissheit, weniger Fehler als der Gegner zu machen. Das kann schon einmal unangenehm in die Knochen kriechen und für Verstimmungen sorgen. Aber die Art und Weise, in der sich Hertha präsentierte, ließ für die Zukunft nur Schlimmes erahnen.
Die soll in den nächsten 48 Stunden entscheidend vom neuen Leiter Sport gestaltet werden. Dem blutleeren Kader, der sich von der fatalen Transferphase unter Jürgen Klinsmann im Januar 2020 nie wieder hat erholen können, fehlt es an allen Ecken und Enden an Spielern, die diese Saison noch retten können. Nach dem Aus von Bobic und der sich nun ankündigenden Verpflichtung von Vereinslegende "Zecke" Neuendorf und dem langjährigen Akademieleiter Benjamin Weber bleibt kaum Zeit, auf die bedrohliche Krise zu reagieren. Bobic hatte die letzten Wochen damit verbracht, den Kader auszudünnen.
Bobic nur der Schlusspunkt eines gebrauchten Tags
Das war ohnehin seine Hauptaufgabe seit seiner Ankunft im Sommer 2021. Die finanziellen Rahmenbedingungen ließen nichts anderes zu. Das Geld von Investor Lars Windhorst längst verpulvert und die Pandemie mit ihren Geisterspielen tat ihr Übriges. Bobic verwaltete ein kollabierendes Gebilde, das er mit seinen unglücklichen Not-Transfers von längst vergessenen Spielern wie Fredrik Björkan oder Dong-jun Lee nie hatte stützen können. Der bei Frankfurt gefeierte Manager agierte in den Niederungen des Transfermarkts hilflos, die Substanz der Mannschaft wurde immer mehr angegriffen. Das Transferplus von über 40 Millionen Euro nagte am Kader. Bobics Trainer Tayfun Korkut und jetzt Sandro Schwarz agierten glücklos. Während andere Klubs mit ähnlich geringen Mitteln reüssierten, kannte Hertha nur einen Weg- abwärts!
Der vom erst im vergangenen Sommer neugewählten Präsidium unter Kay Bernstein jetzt gefeuerte Bobic zieht weiter. Wie es Bernstein bereits im Dezember hatte durchblicken lassen. "Reisende soll man nicht aufhalten", hatte er dem "Kicker" gesagt und am Ende vergeblich warten müssen. Rudi Völler ging zum DFB und Bobic blieb unter Treueschwüren. Hertha BSC sei ihm schon ans Herz gewachsen, sagte er kürzlich. Das erquickliche Gehalt dürfte ihm dabei die Entscheidung versüßt haben. Am Ende aber ging alles so schnell, dass noch auf der Pressekonferenz nach dem Spiel von dem sich wenige Meter entfernt abspielenden Drama wenig zu spüren war. Trainer Schwarz erklärte, wie der Klassenerhalt doch noch gelingen könnte, und für den folgenden Tag wurde das obligatorische Pressegespräch angekündigt. Dann musste Bobic gehen. Der Schlusspunkt eines gebrauchten Tags.
Als Dr. Felix Brych auf Tor entschied
Nach einer "Drittortauseinandersetzung" am Ostkreuz, am anderen Ende der Stadt, hatten es nicht alle Fans ins Stadion geschafft. Rund 300 Hertha-Anhänger verbrachten den Nachmittag mit der Bundespolizei, die die Identität derer feststellte, die versuchten hatten, beim Halt einer S-Bahn Fans der Stadtrivalen anzugreifen. Und weil sie zu der aktiven Szene gehörten und der Fußball von für Außenstehende schwer zu durchschauende Rituale durchsetzt ist, hielten die, die es in die Ostkurve geschafft hatten, sich zurück. Es blieb befremdlich ruhig dort, wo vor dem Anpfiff dem Schlager von der "Berliner Luft" gelauscht wurde. Manch einer sang sogar mit: "Warum gedeihen nur hier, nu nee, die echt Berliner Pflanzen? Ja jaa, ja jaa, ja ja ja ja, das ist die Berliner Luft, Luft, Luft" und unweigerlich kam die Frage auf, wann das letzte Mal eine Pflanze an diesem unwirtlichen Ort namens Olympiastadion gedeihen konnte?
Vielleicht wäre alles ganz anders kommen, wenn Dr. Felix Brych in der 67. Minute beim Blick auf den Monitor im VAR-Bereich auf ein Foul gestoßen wäre. Doch er fand nichts. Paul Seguin hatte nach einem Lehrbuchkonter zum 2:0 für Union getroffen, und doch hielt sich der Jubel in Grenzen, denn auf der anderen Seite hatte Rani Khedira bei seiner Balleroberung im eigenen Strafraum Ball und Gegner gespielt, nur in welcher Reihenfolge war zunächst unklar. "Ich kann diesen VAR-Scheiß nicht mehr sehen. Ich kann es nicht mehr sehen, ich kann es nicht mehr verstehen. Das war eine spielentscheidende Szene", sagte der Noch-Geschäftsführer Sport, Fredi Bobic, nach dem Spiel. Vielleicht war es sogar viel mehr. Eine zukunftsentscheidende Szene, ein Kipppunkt für die Saison der Hertha und für Bobic selbst. Elfmeter, vielleicht eine Gelb-Rote-Karte für den bereits verwarnten Khedira. Das 1:1. Es hätte so schön sein können, war es aber nicht. Wie so oft in dieser Saison, die bei Hertha aus zu viel "hätte" und zu wenig Punkten besteht.
Das Tor zählte und so verlor die Hertha mal wieder ein Spiel, das dritte in Folge, das dritte von dreien in dieser englischen Woche. 1:10 Tore ist die bittere Wahrheit aus den letzten drei Spielen, da war das 0:2 im Derby noch das annehmbarste. Schließlich spielte der 17. der Liga gegen den ersten Bayern-Verfolger - also den Tabellenzweiten. Hertha-Trainer Schwarz hatte eine "sehr gute erste Halbzeit" gesehen, in der sein Team "sehr mutig, sehr aktiv" gespielt und "hoch gepresst" habe. Auch sein Gegenüber Urs Fischer hatte ein "hart umkämpftes Derby" gesehen, es sei "sehr eng über 90 Minuten" gewesen. Auch Herthas Offensivmann Marco Richter wollte das Positive betonen: "Wir hatten gute Ansätze vorne, aber entweder es stimmt der vorletzte Pass nicht, es steht irgendein Bein dazwischen oder der Torwart hält gut. Irgendwas ist immer zurzeit, das Glück müssen wir uns wieder erarbeiten."
Grauenvolle erste Halbzeit als Highlight
Zur Wahrheit zählt allerdings auch, dass das Niveau des Spiels gering war, Union wenig am aktiven Spielgeschehen teilnahm, es aber auch gar nicht musste, da die Herthaner einfach zu ungefährlich waren. Wie beinahe in jedem Derby lauerten die Köpenicker auf Fehler oder Standards. Beides würde sich unweigerlich ergeben. Und die Offensive der Heimmannschaft war ohnehin wieder einmal nur Treibgut auf der Spree. Zwar war es Hertha anzumerken, dass die Spieler den Willen hatten, dass sie sich bemühten, so wie Schwarz, dessen Zukunft nicht mehr ganz so sicher ist, es später lobte. Trotzdem musste Union nur auf einen Fehler warten - und so stand es in der 44. Minute plötzlich 0:1. Jean-Paul Boetius wollte einen Ball klären, grätschte seinen Gegenspieler aber am Spielfeldrand um, den Freistoß brachte Christopher Trimmel gekonnt von links in den Sechzehner, Danilho Doekhi stieg am höchsten und köpfte unhaltbar ein.
Der Tiefschlag nach 45 Minuten, in denen Hertha die von Schwarz nach der Wolfsburg-Pleite geforderten "vielen kleinen Siege", also gewonnenen Zweikämpfe, feierte, um dann aber im entscheidenden Moment wieder in eine große Niederlage zu rennen. Das Spiel, in dem der Sponsor "Medios Apotheke" mehr damit beschäftigt war, Spieler nach Verletzungspausen zurück auf dem Spielfeld zu begrüßen, war da bereits entschieden. Niemand traute Hertha die Wende zu, am wenigsten wohl die, die dort unten auf dem Platz standen.
Was wird nur aus der Berliner Luft?
Ein weiteres Spiel, das deutlich macht, wie akut die Drohung Abstieg für Hertha BSC schon wieder ist. Derzeit wäre noch nicht einmal der Joker Relegation drin, mit dem sich der Klub im Vorjahr nochmal so gerade eben aus der Affäre zog. Als 17. können die Berliner eigentlich nur froh sein, dass der FC Schalke 04 es noch ein ganzes Stück schlechter macht. Es ist so dramatisch, dass der Stadtrivale sogar gefragt wird, ob er Schützenhilfe geben würde. Trainer Urs Fischer versprach, möglichst viele Spiele zugunsten des eigenen Erfolgs gewinnen zu wollen, aber wenn das Hertha helfe, sei das nicht schlecht. "Diese Stimmung in diesem Stadion, da würde was fehlen. Ich drück euch die Daumen", sagte er mit Blick zu Schwarz.
Dabei war die Stimmung seltsam bei dieser Derby-Ausgabe. Hatten vorherige Duelle mehrfach kurz vorm Abbruch gestanden, sangen diesmal beide Parteien stoisch ihre Lieder - aneinander vorbei. Als die Unioner ihre Blöcke mit Beginn der zweiten Halbzeit lichterloh brennen ließen, blieb es auf der anderen Seite in der Ostkurve still und ruhig. Waren ja noch am Ostkreuz alle. Nach dem Spiel trottete die Mannschaft noch in die Kurve, hielt aber großen Abstand und war - mit Ausnahme von Torwart und Fan-Liebling Oliver Christensen - schnell wieder weg. Ein paar Bierbecher flogen, niemand musste sein Trikot ausziehen, wie noch nach der letzten Derbypleite.
Aber das, was in der Kurve passierte, so ließ es sich am späten Abend sagen, war ohnehin die geringste Sorge der Hertha, die nach dieser ersten Woche nach der Rückkehr der Bundesliga vorerst aussichtslos in Richtung zweite Liga stürzt. Es müssten im bald übers Land brechenden Frühling schon die seltsamsten Pflanzen im Olympiastadion gedeihen, damit die "Berliner Luft" auch in der kommenden Saison eine erstklassige ist.
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 29. Januar 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de