"Kein Kasernenton" Löw räumt Fehler ein
22.10.2012, 16:58 Uhr
Mund abputzen und weiter machen? Nach dem 4:4 gegen Schweden fällt das nicht gerade leicht.
(Foto: picture alliance / dpa)
Der Stachel sitzt tief. Der Schock nach dem späten 4:4-Ausgleich im WM-Qualifikationsspiel gegen Schweden macht auch Joachim Löw nachdenklich. Das Offensivspektakel seines Teams führe zu größeren Schwächen, es seien Korrekturen nötig, räumt der Bundestrainer im Interview ein und spricht auch von eigenen Fehlern.
Einen Besuch im ZDF-"Sportstudio" hatte Joachim Löw noch wegen einer Grippe absagen müssen. Eine knappe Woche nach dem unerklärlich verspielten 4:0-Vorsprung beim 4:4 gegen Schweden in der WM-Qualifikation stellte sich der 52 Jahre alte Bundestrainer im Interview den Fragen zu Fehlern, Korrekturen und Führungskräften.
Die öffentlichen Debatten nach dem 4:4 waren heftig und emotional, können Sie das nachempfinden?
Joachim Löw: Diese Debatten kann ich natürlich nachempfinden. Auch bei uns saß der Stachel tief. Wir konnten uns auch nicht vorstellen, dass wir nach so einem grandiosen Spiel einen 4:0-Vorsprung noch aus der Hand geben. Wir waren auch alle fassungslos."
Wie ist denn Ihre Stimmung jetzt, gab es schon eine Aufarbeitung?
"Der Stachel sitzt nicht mehr so tief, weil wir natürlich darüber gesprochen haben und Lösungen finden müssen. Die Erkenntnis ist: Dieses unglaubliche Offensivpotenzial führt natürlich auch zu Schwächen. Und diese Schwächen sind nicht erst jetzt, sondern schon im gesamten Jahr in Erscheinung getreten.
Nach dem Halbfinal-Aus bei der EM hatten sie von notwendigen kleinen Korrekturen gesprochen, müssen die jetzt doch größer ausfallen?
Eine Stunde zelebrierte die Nationalef gegen Schweden Fußball wie aus dem Lehrbuch, dann verspielten sie die 4:0-Führung.
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Grundsätzlich wird die Mannschaft an so einer Situation auch wachsen. Das wird uns jetzt nicht mehr so passieren, da bin ich mir sicher. Bei der EM war festzustellen, dass wir bis auf das Italien-Spiel eine gute Balance hatten. Gegen Österreich haben wir schon defensive Schwächen gehabt und mit Glück gewonnen. In diesem Maße, wie in den letzten 30 Minuten gegen Schweden, sind sie noch nicht zutage getreten.
Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Ich erwarte, da muss ich mir auch an die eigene Nase fassen, dass wir an Lösungen arbeiten, damit wir nicht mehr in solche Situationen kommen. Vielleicht müssen wir ein Ritual festlegen: Was ist zu tun, wenn wir ein Spiel dominieren und dann einen Anschlusstreffer kassieren? Da haben wir in den letzten Spielen in der Tat gewisse Schwächen gezeigt. Wir haben den Gegner das ein oder andere Mal völlig unnötig wieder ins Spiel gebracht.
Sie selbst waren auch geschockt, hatten auf taktische Korrekturen und Auswechslung verzichtet. Im Nachhinein ein Fehler von Ihnen?
Das ist natürlich ein Vorwurf an mich, absolut. Ich konnte auch nicht glauben, dass das Spiel kippt. Ich hätte mit einer Auswechslung ein Signal senden müssen, mit einem defensiven Mann, der in der Lage ist, die Mannschaft zu entlasten. So etwas habe ich in 20 Jahren auch noch nicht erlebt. Da lerne ich auch daraus. Mein Plan war zuerst, als das Spiel etwas aus den Fugen geriet, ballsichere Spieler zu bringen wie Götze. Aber das ist nicht aufgegangen.
Werden Sie Ihren Kurs jetzt noch kompromissloser gehen, weil es Ihre letzte Chance ist, als Bundestrainer noch einen Titel zu erreichen?
Die Spieler wissen, was wir Trainer erwarten. Ich denke, den Weg kann man klar erkennen, sonst kann man auch nicht gegen Irland 90 und gegen Schweden 60 Minuten diesen Fußball spielen. Unser Umgang mit den Spielern ist von Respekt geprägt. Ich halte nichts von einem Ton wie auf dem Kasernenhof. Das entspricht auch nicht meine Persönlichkeit. Sondern ich will die Spieler natürlich mit einbeziehen. Wir setzten auf Kommunikation."
Hat die Mannschaft einen Rückschritt gemacht?
"In einer Entwicklungsphase gibt es immer mal Rückschläge. Absolut. Wir haben ein unglaubliches Kreativ- und Offensivpotenzial wie vielleicht seit Jahrzehnten nicht mehr. Auf der einen Seite sollten wir darüber glücklich sein und es als große Chance begreifen, dass wir unsere gesamt Philosophie nach diesen Spielern ausrichten können. Aber diese Gegentore und Defensivschwächen kann auch ich nicht akzeptieren und wollen.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Die aktuelle Situation hilft uns, die Weichen jetzt nochmals richtig zu stellen. Insofern hat es vielleicht auch etwas Positives. Das ist mir lieber, als wenn wir im Herbst 2013 feststellen müssen, dass wir in so eine negative Situation rutschen. Ich stehe zu dieser Generation mit all den Stärken und Schwächen, die wir im Moment haben. Das Potenzial ist hervorragend. Wie wir 60 Minuten gegen Schweden gespielt haben, das hat mich schon sehr zufriedengestellt. Aber wir müssen natürlich auch an den Schwächen arbeiten.
Gilt diese neue Weichenstellung auch in personellen Fragen?
Es gab verletzungsbedingte Ausfälle, die uns in so einem Spiel sicher gut getan hätten. Khedira war verletzt, die beiden Benders. Ich sehe zu diesem großen Kader nicht die Alternativen. Es kommen junge Spieler nach, die gut sind, die sich gut entwickeln. Aber personell gesehen haben wir alle Möglichkeiten und können uns das auch für die Zukunft ein Stück weit offen lassen."
Kritiker haben gefragt, ob Sie noch die Kraft haben bis zur WM 2014?
Es ist immer so, dass sich ein Trainer nach einem Turnier mit der Enttäuschung aus einer Niederlage und einer emotionalen Vollbelastung von zwei Monaten natürlich fragt, was gibt es an neuen Impulsen, an neuen Ideen. Das ist eine unglaubliche spannende Aufgabe mit diesen hervorragenden Spielern mit charakterlicher Klasse. Deswegen freue ich mich wahninnig und bin stolz, dass ich mit solchen Spielern arbeiten kann.
Manager Oliver Bierhoff hat betont, auch die Teamführung müsse sich ehrlich hinterfragen. Wie wird das passieren?
Das machen wir ständig, nicht erst nach dem Schweden-Spiel oder nach dem Italien-Spiel. Nach jedem Spiel. In Workshops diskutieren wir manchmal kontrovers und unterschiedlich. Wir hinterfragen uns, was können wir besser machen. Mit manchen Dingen, die so dargestellt werden, bin ich nicht immer einverstanden. Dann heißt es, ist der Bundestrainer beratungsresistent oder kann er keine Fehler zugeben? Wer mich kennt, weiß, dass ich zu meinen Fehlern stehe oder zu einer nicht aufgegangen Strategie.
Nach dem Schweden-Spiel wurde weiter über Führungsspieler diskutiert.
Es war auffällig. Wir haben genügend Spieler, die eine Dominanz ausstrahlen. Wenn man definiert, was einen Führungsspieler auszeichnet, dann wird man schon sehen, dass wir gute Führungsspieler haben. Da gehört ein großes Können und eine Akzeptanz bei den Mitspielern dazu. Das haben unsere Führungsspieler schon. Wenn man meint, dass wir einen Dreckskerl brauchen, der dazwischen haut, auf Freund und Feind einschlägt, um etwas zu bewegen, den haben wir nicht. Darüber bin ich aber auch nicht böse, weil solche Spielertypen können auch mal viel kaputt machen. Da ist dann der Schaden größer.
Quelle: ntv.de, Jens Mende, dpa